Kuh Gott Tod

Nebenstelle (13): Vom Leben und Schreiben in der norddeutschen Provinz. Georg Klein lebt an einem Ort, wo die wenigsten Menschen jemals ein Buch zur Hand nehmen. Und doch appellierte der Platzwart im heftigsten Streit an seine schriftstellerische Vorstellungskraft

Wo man bei Cechov in der Hoffnung auf das wirkliche Leben nach Moskau rief, rufen und ziehen deutsche SchriftstellerInnen heutzutage in lemminghafter Einhelligkeit nach Berlin. Hieß es nicht einmal: Die Erneuerung kommt von den Rändern? Für die taz nord schreiben SchriftstellerInnen aus der norddeutschen Provinz, was das Wohnen fernab der Metropolen für ihr Schreiben und Leben bedeutet.

Unser Platzwart ist tot. Zuerst der Notarztwagen, dann die Polizei, schließlich das Leichenauto fuhren vorbei, während ich mit einem Buch im Garten saß. Die Allee, an deren Anfang wir wohnen, führt vom Sportplatz Richtung Wasser. Zwischen dem niedrigen alten und dem steilen neuen Deich steht der Kirschbaum, aus dem der Platzwart des hiesigen Fußballvereins mit stillstehendem Herzen vor sein Häuschen stürzte. Er war siebzig, zog, solange ich ihn kannte, ein steifes Bein nach und hatte, wie er mir einmal beiläufig erzählte, ein Auge bei einem Arbeitsunfall auf einer Baustelle verloren. Nun war er in der glühenden Hitze seines letzten Juli-Nachmittags über eine Aluleiter in den Kirschbaum gestiegen, um ein paar abgestorbene Äste herauszusägen. Ein Einheimischer, mit dem ich tags darauf darüber sprach, stimmte mir mit einem wohlwollenden Kopfnicken zu, als ich, der zugezogene Schriftsteller, sagte, dieser Tod passe zu dem, der von ihm ereilt worden war.

Es ist aber auch so:

Zwei Touristinnen, etwa in meinem Alter, also Anfang Fünfzig, radeln vorbei, während ich, unsichtbar für ihre neugierigen Blick, in unseren Gemüsebeeten hocke und die Raupen vom hochstämmigen Grünkohl sammle. “Da wohnt dieses Schriftstellerpaar!“

„Was schreiben die?“

„Heimatliteratur!“

Die Damen irrten. Ich werde, solange ich die Tastatur zum Klackern bringen kann, nie einen Roman über Scholle und Deich, über den Bauern im Besonderen oder die Landmaid im Allgemeinen verfassen. Genauso wenig, wie ich während unserer Berliner Jahre über den Ku’damm oder über den eingeborenen Kreuzberger geschrieben habe. Der erste lange Erzähltext, den ich, neun Jahren ist es her, hier auf Heinitzpolder abschloss, spielt in einer phantastischen orientalischen Stadt namens Libidissi. Und selbst wenn in diesem Roman eine Kuh vorgekommen wäre, hätte diese nicht so ausgesehen wie jenes prächtige Tier, das ich letzten Sommer auf einer Wiese zwischen den Deichen gemächlich kalben sah, während ihm andere Jungkühe die Lauscher und die Flanken schleckten.

Die ländliche Welt, die uns umgibt, alles, was in ihr kreucht und fleucht und rollt, wird nie unmittelbar Gegenstand meiner Prosa sein. Ich mag nichts abbilden, ich will nichts nacherzählen. Keine der hiesigen Personen, kein Baum und kein Stück Deich wird in meinen Texten jene sinnige Aufladung erleiden, die Literatur dem Wirklichen verspricht oder mit der sie ihm droht. Das habe ich schon in Berlin so gehalten. Aber hier auf dem Land scheint es mir noch bekömmlicher, all das wunderbare und grässliche Zeug, das gerade der Fall ist und unsere Wahrnehmung bedrängt, beim Schreiben, im Exzess der Phantasie, ungenannt links liegen lassen.

Vielleicht hängt dies auch damit zusammen, dass die Menschen, denen die Literatur als Erfahrung wichtig ist, hier noch dünner gesät sind als in der Stadt. Wochenlang sehe ich, außer meiner Frau und unseren Söhnen, niemanden mit einem Buch in der Hand. Und ich gehe davon aus, dass die Herrschaft der Bildschirme über die Imagination in den meisten der hiesigen Häuser längst eine nahezu absolute geworden ist.

Das heißt jedoch nicht, dass man sich niemals Gedanken über die Schriftstellerei machen würde. Dazu kann es durchaus kommen. Unseren verstorbenen Platzwart lernte ich vor einigen Jahren näher kennen und schätzen, weil ich zweimal mit ihm in Streit geriet. Es lohnt nicht, die Anlässe unserer Auseinandersetzungen im Detail zu erzählen. Unsere Söhne spielen Fußball im Verein. Der Platzwart hatte jeden Grashalm, den die Stollen ihrer Schuhe krümmten, unter seiner Obhut. Und so scheute er sich auch nicht, Kinderfahrräder, die ihm nicht korrekt abgestellt erschienen, kurzerhand in den schlammigen Graben zu schleudern.

Als wir uns das zweite Mal heftig argumentierend gegenüberstanden, als ich in väterlichem Furor nicht lockerließ, hob er beide Hände gegen den ostfriesischen Himmel, als wollte er einen Gott zu Hilfe rufen. Dann fixierte er mich, den erstaunt Verstummten, mit seinem sehenden und mit seinem künstlichen Auge und meinte fast flehentlich, es könne doch nicht sein, dass sich einer, der Bücher schreibe, ganz alleine von der ersten bis zur letzten Zeile, dass sich ein Schriftsteller wie ich die einfachste Sache von der Welt, die Ordnung eines Fußballplatzes, nicht vorstellen könne. Dieser Appell an meine Vorstellungskraft bildete die Grundlage unserer Einigung. Wir schieden mit Handschlag und in einem Respekt, der zwar nie weiß, was genau hinter den Augen des anderen vor sich geht, der aber dennoch bereit ist, eine wohlwollende Phantasie davon zu bilden.

Unser Platzwart ist tot. An unserem Garten vorbei fuhr man ihn zur Obduktion nach Oldenburg. Irgendeine Vorschrift verlangte dies, da er nicht brav im Bett, sondern, die Säge in der Faust, im Kirschbaum gestorben war. Wer weiß, welcher morsche Ast mich noch ärgern, welche Kirschen mich noch locken werden. Es müssen nicht partout ostfriesische Äste, nicht unbedingt ostfriesische Kirschen sein. Aber soweit meine momentane Vorstellungskraft reicht, also aus der Fallhöhe dieses phantastischen Sommers, scheint mir ein ländlicher Baumsturz dem Sturz aus dem Fenster jedweder Stadt einen, ja sogar zwei Handbreit überlegen zu sein.