: „Wir tragen ein Stalin-Gen in uns“
ZAR Wiktor Jerofejew ist Russlands wichtigster Schriftsteller. Er erklärt uns das riesige Reich und seine empfindliche Seele. Und warum Putin so mächtig ist, die Russen den Tod nicht fürchten und Homosexualität mit Gewalt verbinden anstatt mit Liebe
■ Der Mann: Wiktor Jerofejew wurde am 19. September 1947 in Moskau geboren. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte er in Paris, sein Vater war dort sowjetischer Botschafter. Jerofejew promovierte über Dostojewski. Er lebt in Moskau.
■ Der Autor: Bekannt wurde Jerofejew in den 90er Jahren mit dem Roman „Die Moskauer Schönheit“. 2013 erschien bei Hanser sein Thriller „Die Akimuden“, der von einem fiktiven Staat und dem Leben in einem zukünftigen Russland erzählt.
■ Der Kritiker: 1979 war Wiktor Jerofejew am systemkritischen Literaturalmanach „Metropol“ beteiligt und wurde aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossen. Er gilt als kritischer Beobachter der russischen Politik.
GESPRÄCH KLAUS-HELGE DONATH
sonntaz: Herr Jerofejew, jetzt haben die Olympischen Winterspiele in Sotschi begonnen. Sie haben lange zu Präsident Putins Megaprojekt geschwiegen. Was sagen Sie nun?
Wiktor Jerofejew: Die Intelligenz hasst die Spiele in Sotschi natürlich. Später wird aber auch sie stolz auf Sotschi sein. Mit Sankt Petersburg war es nicht anders. Es wurde im 18. Jahrhundert in den Sumpf gebaut und Tausende kamen dabei ums Leben. Sotschi entsteht auch auf Sumpfland. Hier wie dort tritt ein autoritäres Regime als Bauherr auf. In Petersburg schufteten Leibeigene, in Sotschi sind es Fronarbeiter aus Tadschikistan.
Und trotzdem trug Sankt Petersburg zur Europäisierung Russlands bei.
Auch Sotschi wird das Land auf längere Sicht Europa näherbringen.
Mit und ohne Wladimir Putin?
Putin wird strahlender Sieger der Spiele sein und in die Geschichte als Schöpfer eines neuen Sotschi eingehen.
Wie Peter der Große als Baumeister St. Petersburgs?
Putin ist weder Zar noch ein besonders starker Mensch. Er hat sich nur die Methoden angeeignet, die despotische Regime von Iwan dem Großen bis zu Stalin einsetzten. Sie impfen Angst ein. Putin ist nicht der übelste Herrscher. Er wird aber ewig an der Macht bleiben, denn er hat sich eine Umgebung geschaffen, für die er von Vorteil ist. Außerdem herrscht in der Gesellschaft ein Zynismus, der an die Kriegsjahre im besetzten Frankreich erinnert – nach dem Motto „Man muss ja leben“. Es wird schwierig, sich davon wieder zu befreien. Niemand will etwas riskieren.
Angesichts der Jahrhundertbaustelle Sotschi haben Sie das Bild eines guten und schlechten Stalins entworfen und so die liberale Intelligenz provoziert. Sie stellen den guten Baumeister dem schrecklichen Schlächter gegenüber.
Bei den Deutschen gibt es keinen Spielraum in der Bewertung Hitlers. Er war nur böse. Das ist hier anders. Wir haben unsere Geschichte nicht aufgearbeitet, weil wir nur die eigenen Leute – unsere Klassenfeinde – umgebracht haben. Das war eine Steigerung des Hasses aus der Zeit vor der Revolution. Der gute Stalin ist ein Führungsprinzip. Brutal, hart, autoritär – aber mit vorzeigbaren Ergebnissen. Viel wurde gebaut. Der schlechte Stalin steht für Repression und Terror. Bei uns funktioniert alles nach dem Prinzip guter Stalin.
Wie meinen Sie das?
Als ich meinen kleinen Verlag liberal führte, ging alles den Bach runter, bis ich einen Verwalter einsetzte, wie es die Gutsbesitzer früher taten. Mir war klar, ich muss auf den Tisch hauen und durchgreifen. Ich wollte aber weder ein guter noch schlechter Stalin sein. Anders funktioniert bei uns jedoch nichts. Putin hat sich den guten Stalin angeeignet und Olympia gebaut. Viele sind über die Korruption rund um die Spiele empört. Sie halten es für besser, das Geld in Bildung und Gesundheit zu stecken. Aber wäre es dort jemals angekommen? Jetzt gibt es zumindest tolle Stadien, Sotschi war früher eine unglückliche Stadt. Mein Verhältnis zu Putin ist daher zwiespältig. In dieser Beziehung bin ich ein typischer Russe, der verknüpft, was sich nicht verknüpfen lässt.
Sie behaupten, die Russen hätten Stalin in den Genen.
Stalinismus gab es schon vor Stalin: Unter Iwan dem Schrecklichen, Peter dem Großen oder Nikolai I. war das Gen schon entwickelt, hatte nur noch keinen Namen. Seine Träger waren Gutsbesitzer und Starrköpfe. Unsere Adeligen waren ja nicht alle liberale Europäer. Als Stalin auftauchte, verlieh er dem Gen, das heute Bestandteil des Nationalcharakters ist, nur den Namen.
Russland Demokratie zu verordnen wie den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, hätte das Erfolg?
Ich glaube schon. Auch Europa wurde die Moral erst durch Folter und Kriege aufgezwungen, wie Nietzsche eindrucksvoll zeigte. Wir hatten weder Renaissance noch Aufklärung. In Zukunft muss Russland jedoch eine Diktatur des Liberalismus durchlaufen. Denn niemand wird Russland erobern, die Demokratie kommt nicht von außen. Vielleicht greift ein kleiner Teil der aufgeklärten Gesellschaft nach der Macht, wenn die heutigen Herrscher biologisch am Ende sind. Dann wird bei uns die Demokratie aufgebaut, wie man einst den Kommunismus errichtete. Vor 20 Jahren hofften wir noch, dass die junge Generation die Gesellschaft demokratisiert.
Und?
Leider ist auch diese Generation gespalten. Sie schaut zu den USA auf, hasst sie aber gleichzeitig. Sie schimpft auf den Westen, will aber dort leben – und sei es nur in Bulgarien. Diesem zerrissenen Bewusstsein fehlen Werte, es ist schwer krank. Damals dachten wir, wir müssten noch fünf Meter klettern, um aus unserer Grube herauszukommen, tatsächlich sind es 50 Meter. Dazu brauchen wir 40, nicht 20 Jahre.
Noch werkelt Putin aber an einer konservativen Leitideologie.
Das führt ins Nirgendwo. Für gewisse Zeit reicht der Treibstoff wohl noch. Er fühlt sich vom Westen einfach verletzt. Und weil er gekränkt ist, will er mit aller Kraft an einen Dritten Weg glauben. Doch wo soll der ohne Straßen hinführen? Putin ist auch ein guter Taktiker, was er im Fall Syrien bewiesen hat. Es gibt aber keine Strategie und nichts, worauf sich die Behauptung einer russischen Auserwähltheit stützen könnte.
Hat die Opposition keine Chance, sich mehr Gehör zu verschaffen?
Pussy Riot hat das System an der empfindlichsten Stelle getroffen: der Instrumentalisierung des Staates durch die Kirche und umgekehrt. Sie haben so zugeschlagen, dass beide extrem verletzt waren. Pussy Riot sind gescheite und vernünftige junge Frauen. Überhaupt machen die meisten, die zurzeit vom System verfolgt werden, einen äußerst sympathischen Eindruck. Fast sieht es so aus, als würden sie gezielt eingesetzt, um die Machthaber zu verspotten, als wolle jemand üble Scherze mit ihnen treiben. Das Bild kontrastiert mit all jenen Schurken, die an die Macht drängen. Der Oppositionelle Alexej Nawalny etwa ist der Inbegriff eines heldenhaften Liebhabers mit einer schönen Frau und einer intakten Familie.
In Ihrem letzten Roman „Akimuden“ werden die Toten wieder lebendig. Sie übernehmen die Macht und schicken sich an, neben Russland gleich die ganze Welt zu retten. Wie haben die Leser diese Mischung aus russischer Ethno-Psychoanalyse, Phantastik und Zwischenbilanz der Ära-Putin verdaut?
In Deutschland ist sie gut angekommen. Bei uns sind die Leute noch nicht reif dafür. Außerdem bin ich hier eine umstrittene Figur. Ein unabhängiger Schriftsteller, der nicht Partei ergreift. Weder für die Machthaber, noch gehe ich als Revolutionär auf die Straße. Meine Ansichten sind nicht kompatibel. Man nimmt mich daher auch nicht als einen sozialen Akteur wahr. Und wer mich nicht wahrnimmt, der liest auch meine Bücher nicht.
In den „Akimuden“ sind die Toten und der Tod die treibenden Kräfte. Unterscheidet sich der Umgang mit dem Tod in Russland von dem in anderen Kulturen, begegnet man ihm mit weniger Angst, weil er allgegenwärtig ist?
Der Westen befreit sich vom Tod dank der Medizin und eines gehobenen Lebensstandards. Bei uns ist das Leben zufällig und beliebig, der Tod dagegen gesetzmäßig. Wir begegnen ihm nicht mit Unglauben. Wir sind eher verwundert, dass wir noch am Leben sind. Die Lebenden unterscheiden sich kaum von den Toten. Manchmal ähneln sie Totgeborenen.
Macht die Russen die Todesverachtung freier?
Russland hat Deutschland nicht wegen der Kälte oder Stalingrad besiegt oder weil es an Mannstärke überlegen war. Das Verhältnis des russischen Soldaten zum Tod war entscheidend. Seine Verhöhnung des Todes. Der Tod ist ein Haus, in das er einfach eintritt. Darüber hat seltsamerweise niemand geschrieben. Auch Historiker griffen das nicht auf. Mit welcher Gnadenlosigkeit schickten die Marschälle die furchtlosen Soldaten in den sicheren Untergang! Hitler nahm sogar Rücksicht auf seine Soldaten und marschierte nicht in Leningrad ein. Bei uns klagte niemand. Selbst Frontkämpfer hielten die massenhaften Opfer für unvermeidlich. Der Tod ist wie ein Tier, das um uns herumschleicht.
Sind die Toten der Schlüssel zum Verständnis der russischen Seele, die der Westen angeblich nicht versteht? Warum lassen Sie sie nicht ruhen?
Unsere Toten können und werden uns nicht in Ruhe lassen. Sie sind verletzt und beleidigt. Erst wurden sie erschossen, dann hat niemand sie beerdigt. Ihr Andenken wird auch nicht bewahrt. Nichts war, wie es hätte sein sollen. Diese Millionen und Abermillionen beleidigter Toter und ihr ungeklärtes Verhältnis zu den Lebenden machen das Wesen Russlands aus. Daher sind die Toten viel wichtiger als im Westen, wo sie anständig begraben wurden.
Färbt das auf die Lebenden ab?
In der Mittelschicht verändert sich gerade etwas. Die Jugend unterscheidet sich kaum noch von der im Westen. Auch sie fürchtet inzwischen den Tod und ist ebenso politisch korrekt. Sie trinkt auch schon weniger Wodka und tanzt wie im Westen. Russland ist auf halbem Wege. In den „Akimuden“ kehrt es jedoch noch mal in die Vergangenheit zurück – der Einfluss der orthodoxen Kirche und die Politik der Unvernunft weichen nur langsam. Eine neue Zivilisation mit einem Toten an der Spitze entsteht, der dem jetzigen Präsidenten sehr ähnlich ist, nur eben noch etwas toter. Niemand sieht einen wirklichen Unterschied.
Wenn die Vorfahren Vergeltung fordern, ist das eine Metapher für das Verhältnis Russlands zu seiner eigenen Geschichte. Wer sie missachtet, wird von ihr eingeholt?
Ich setze Metapher auf Metapher, dann bricht die Konstruktion zusammen. Mir haben die Leichen sehr geholfen. Sie sprechen alle ein anderes Russisch: das der Vorkriegszeit, sowjetisches, das Idiom der Stalinzeit und das der Tauwetterperiode. Unter Patriotismus verstehe ich die Sprache, sie verbindet mich mit der Heimat und daraus nehme ich mir das Recht, die Zukunft Russlands zu verorten: sie liegt im Westen und nicht, wie es zurzeit propagiert wird, in Sibirien.
Brauchen Sie als Schriftsteller Russlands Dauerkatastrophe?
Für mich ist Russland ein Paradies. Es passiert so viel hier. Konflikte zuhauf, offene Wunden, zivilisatorische Kollisionen, Kämpfe über Metaphysik und Mystik, die der Westen nicht liebt, Gottesfehden wie bei Dostojewski. Ich fühle mich wie ein Engländer, der zum Nordpol fährt, um das Eis zu erforschen. Die Ohren frieren ihm ab, aber er kehrt nicht nach London zurück, weil Forschen seine Berufung ist. Mit diesem Material zu arbeiten ist schrecklich, aber aufregend. Nur Russland hält so etwas parat. Hier lässt sich die Natur des Menschen unverstellt beobachten, es ist ein Versuchsfeld für alles Menschliche. Daher überschreiten meine Bücher Grenzen und werden im Westen angenommen. Ich bin eigentlich kein Ethnograf, ich bin nicht einmal ein richtiger russischer Schriftsteller, da in mir zwei sich überschneidende Kulturen leben. Die Alltagskultur Deutschlands oder der Schweiz ist mir näher als die Russlands. Aber hier ist meine Sprache.
Worauf ist diese Obsession für das Metaphysische in Russland zurückzuführen?
Verzweiflung. Draußen regnet es und ist eisig. Nichts gedeiht, weder Kartoffeln noch Blumen. Schwermut breitet sich aus, da nichts gelingt: Der Sinn des Lebens verlangt dann nach einer tieferen Bestimmung. Die Gedanken fliegen davon und entfernen sich von den Pflichten. Stattdessen wird die Frage übermächtig: Wofür leben wir, wo ist der Sinn? Die Suche wurde zur wichtigsten russischen Frage. Das hat die metaphysischen Empfindungen sehr beeinflusst.
Sehnt sich der Russe nach dem Jenseits? Will er das irdische Jammertal schnell hinter sich lassen? Reagiert er damit auf das alltägliche Chaos?
Die Frage ist sehr ernst. Das menschliche Projekt ist trotz aller Verzweiflung bei uns auf das Leben ausgerichtet. Der Philosoph Nikolai Fjodorow träumte davon, die Seelen der Toten im All wiederzubeleben. Ungeachtet dieses Obskurantismus wollte er die Väter jedoch wiedererwecken, nicht töten. Ob der Russe vom Jenseits als einer anderen Form der Unsterblichkeit träumt? Ich weiß es nicht. In meinem Buch kommt der Botschafter des Totenreichs der Akimuden nach Russland, weil die Unsterblichkeit eingeführt werden soll. Er ist alarmiert. Die Russen interessieren ihn eigentlich nicht.
Ihre Romanheldinnen sind starke, verführerische, verruchte Superfrauen. Eine von ihnen erinnert an Pussy Riots Katja Tolokonnikowa. Sind es diese Superwesen, die das Land eines Tages retten?
Literarisch trainiere ich seit langem mit starken Heldinnen. In der amerikanischen Kultur dominiert der Supermann, bei uns die Superfrau. In jeder Rolle – als Spionin, Pornodarstellerin oder Frontfigur der Oppositionsbewegung, die für ihre Überzeugung auch bereit ist zu sterben. Meine Frauen sind keine Sklavinnen der Umstände, keine Opfer. Sie strotzen vor Kraft. In Moskaus Nachtclubs treffen Sie auf diese Wesen. Sie sind der Natur entlehnt und keine künstlichen Schöpfungen. Die Frauen halten Russland zusammen, aber sie sind nicht nur Bewahrerinnen des Guten.
Ist der Mann nur noch eine bedauernswerte Randfigur?
Es gab bei uns mal Männer – mit der Revolution sind sie emigriert. Was blieb, war eine Arbeiter-und-Bauern-Masse. Keine Männer, daran sind die selbst aber nicht schuld. Sie waren ein Produkt der Zeit. Mir fällt es auch schwer, Lenin einen Mann zu nennen. Er war ein typisches Geschöpf der völkisch-revolutionärdemokratischen Kultur.
Hat das sowjetische System den Mann abgetrieben?
Das Fehlen des Mannes ist ein Trauma. Daher rührt auch der Mangel an Persönlichkeiten. Einsichten und Erkenntnisse entwickeln sich nicht in dieser Atmosphäre. Verkörpert die Frau Russlands Stärke, so ist die Unsichtbarkeit des Mannes dessen Übel. Den Frauen reicht das Männliche nicht, sogar die Nachtclubs verlassen sie in weiblicher Begleitung. Moskau ist die europäische Hauptstadt der Lesben. Dennoch, kleine Bambustriebe sprießen. Michail Chodorkowski zum Beispiel verhielt sich im Gefängnis sehr würdevoll. Ich würde ihn für den Friedensnobelpreis nominieren. Er saß zehn Jahre in Haft und rief dennoch zum Dialog mit den Machthabern auf.
Hängt die Schwulenhatz, wie sie in Russland alltäglich ist, mit der geschwächten Männlichkeit zusammen?
Europa versteht das Problem der Homosexualität in Russland nicht richtig. Hinter der Ablehnung steckt die Erfahrung mit Gewalt im Gefängnis. Millionen, ja, die Hälfte der Bevölkerung, hat Lager oder Gefängnisse hinter sich. Brutale Kriminelle werden auf Mithäftlinge losgelassen, die nicht mehr mit am Tisch sitzen dürfen, für sie waschen und gehorchen müssen. Homosexualität verbindet der Russe mit Aggression, nicht mit Liebe. Sie bedeutet zunächst Gewalt, Erniedrigung, Vernichtung des Mannes, fast Kastration. Das ist eine nationale Besonderheit, die den Europäern unverständlich bleibt. In Europa und den USA existiert das nur in Ansätzen. Nun wird auch das archaische Denken noch bewusst gefördert, das keine Experimente zulässt. Nach der Morphologie des Sexes in russischen Märchen lehnt das Volk alle Liebespraktiken ab, die mit dem Hinterteil zu tun haben.
Aber es gibt Homosexualität in der Armee und in geschlossenen Zirkeln.
Unsere Politiker sind überzeugt, Homosexualität werde im Westen besonders geschätzt. Wir haben unterdessen Peter dem Großen Denkmäler errichtet. Bis heute sind wir ihm für das, was er getan hat, dankbar. Er aber war ein Monster, ein Sadist und auch homosexuell.
Warum tut sich gerade die orthodoxe Kirche bei der Jagd auf Schwule und Lesben hervor?
In den neunziger Jahren hatte die Kirche die Chance, die Gesellschaft zu unterweisen. Jeder war auf der Suche nach Orientierung. Die Kirche zögerte jedoch. Der orthodoxe Priester Alexander Men, der die Kirche reformieren wollte, wurde ermordet. An diesem Punkt wandte sich die Kirche Archaik und Konservatismus zu, verfiel in einen antisemitischen Fieberwahn, was nicht weit vom iranischen Fundamentalismus entfernt ist. Die Kirche will sich die Gemeinde unterordnen wie die weltlichen Machthaber. Einige liebenswürdige Priester gibt es noch, sie schweigen aber und verkörpern nicht mehr die Orthodoxie. Am Anfang der Putin-Ära machten einige noch den Mund auf, das ist aber vorbei.
Haben Sie Angst vor der Kirche?
Ich fürchte ihre Politik, die direkt zu iranischen Verhältnissen führt. Die Orthodoxie hat niemals eine eigenständige Entwicklung eingeschlagen, sie war immer eine Magd der Macht. In den 1930er Jahren weckte die Orthodoxie im Westen zwar großes Interesse wegen ihrer Weltfremdheit und Abgekehrtheit und eines untergründigen Hanges zum Tode. Das bedeutet aber nicht, dass man sich mit ihr verbrüdern könnte. Sogar die Putzfrauen in der Kirche sind aggressiv und böse. Alle früheren Werte sind zerstört, selbst die sowjetischen. Wir schwimmen zwischen den Wrackteilen im kalten Wasser wie die „Titanic“. Jeder greift sich einen Sack an Werten, die aber nicht zusammenpassen. Sogar in einer Familie sind sie verschieden. Es gibt keine Gesellschaft, die atomisierter wäre als unsere.
Ist Russland ein Teil Europas?
Russland gehört dazu und wiederum auch nicht. Solange es sich bewusst entwickelt, ist es Europa nahe. Taucht es ins Unterbewusste ab, flieht es Europa. Ungeahnte Emotionen setzt es frei. Dann erscheint es mir weiter entfernt von Europa als China. In den „Akimuden“ taucht nach dem Ende des orthodoxen Intermezzos ein junger Mann auf, der das Unterbewusste verkörpert und sich in ein Monster verwandelt. Alle sind jedoch glücklich, dass einer wie Putin erschienen ist. Russland ist für Europa eine bequeme Einrichtung: Ein großes, dreckiges Zimmer, wo sich jeder waschen und herausputzen kann. Man leiht den Staubsauger aus und ist beim Ausmisten behilflich. Für das psychische Wohlbefinden der Helfer ist das von Vorteil. Diese Wahrnehmung Russlands täuscht aber und verhärtet das Unverständnis.
Will Russland nicht einfach nur geliebt werden?
Es leidet daran, dass es nicht richtig verstanden wird. Zurzeit sammelt es Energien. Mit dem Sendungsbewusstsein eines missionarischen Staates will es von den Sünden der USA und Europas künden. Nähe lässt es nur von Freunden zu, zu denen die USA und EU nicht zählen. Russland liebt jedoch die Umarmung. Denken Sie an die Küsse Breschnews und Honeckers. Putin ist beleidigt, weil der Westen Moskau gegenüber ablehnender auftritt als anderen Ländern mit ähnlich autoritären Elementen.
Die behaupten auch nicht, dass sie Teil Europas seien.
Russland ist im Zerfall begriffen, wird aber noch als Imperium wahrgenommen. Die davonfliegenden Teile fordert Moskau zurück. Dass das imperiale Bewusstsein fortlebt, zeigt der Konflikt mit der Ukraine. Die Staaten an der europäischen Peripherie wollen sich in Richtung Rechtsstaatlichkeit entwickeln. Russland ist zutiefst beleidigt und reagiert trotzig: Man wird sich mit den Gegnern doch nicht auch noch anfreunden! Sobald man Russland ermuntert, es richtig anpackt und es anrührt, dürfte es selbst freimütig umarmen und Küsse verteilen. Putin entfernt uns jedoch von Europa, die Opposition bringt uns ihm näher.
Haben Sie ein Rezept, wie der Westen mit dem empfindlichen Russland umgehen könnte?
Moskau wird weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Die Schließung vieler Russland-Institute in Europa, den USA und Japan ist ein Fehler. Die russische Welt bleibt eine Problemzone. Wer sich damit befasst, sollte überlegen, wie sich helfen lässt. Vielleicht entwickelt es sich wie das Spanien Francos, wo sich die Demokratie langsam über die Demokratie beim Nachbarn entfaltete. Nur über den Umgang mit Homosexualität zu zetern führt zu nichts. Botschafter kommen hierher, die völlig desorientiert sind und glauben, Russland sei ein afrikanisches Dorf. Drei, vier Jahre halten die hier aus und gehen wieder, dann kommt ein neuer unschuldiger Junge.
■ Klaus-Helge Donath, 57, ist Moskau-Korrespondent der taz. Er traf Jerofejew in dessen Wohnung gegenüber dem russischen Außenministerium. Dort war Jerofejews Vater Stalins Dolmetscher