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Archiv-Artikel

Die notwendige wie unmögliche Gesellschaft

SOZIALWISSENSCHAFT Was ist Gesellschaft? Ist die Gesamtheit der Individuen schon eine Gesellschaft? Dem Soziologen Oliver Marchart zufolge ist sie nur in Krisen und Konflikten präsent

Kennen Sie den Fred-Astaire-Effekt? Dieser entsteht, wenn lange und harte Arbeit in ihr Gegenteil kippt – in jene Leichtigkeit und Souveränität, der man ihre Herkunft nicht mehr ansieht. Oliver Marchart ist so ein Fred Astaire der Theorie.

In seinem neuesten Buch macht er sich daran, den Begriff der „Gesellschaft“ wiederzugewinnen. Diesem Begriff wird seit Jahren von zwei Seiten zugesetzt: zum einen vom neoliberalen Mainstream – mit Thatchers Credo: „There is no such thing as society“, zum anderen von all jenen postmodernen Theorien, die jegliche Totalität auflösen. Der Einsatz ist also ein doppelter: ein politischer und ein theoretischer. Marktindividuen, Begehrensströme, Pluralitäten – gegen all das muss man anschreiben, will man den Begriff der Gesellschaft wieder auf die Tagesordnung setzen. Und Marchart will.

Dazu nimmt er uns auf eine lange Exkursion in die Sozialwissenschaften, deren Geschichte er neu schreibt. Marchart erweist sich dabei als hervorragender Leser – die Königsdisziplin der Theorie –, der Komplexes pointiert und verständlich darstellen kann. Darin liegt schon der erste Gewinn des Buches. Marchart zeigt, dass ein guter Leser einer ist, der selber einen Standpunkt hat. Dieser ist für Marchart der Postfundamentalismus.

Das ist jene Theorie, die davon ausgeht, dass unsere Gesellschaft nicht mehr auf letzten Gründen (wie Gott, Vernunft oder Geschichte) ruht, sie aber dennoch einer Grundlage bedarf. Diese ist dann aber ein veränderbares Fundament, das jederzeit umgeschrieben werden kann. Alle Grundlagen können also „auch anders sein“ – das ist Marcharts Definition von Kontingenz und das genaue Gegenteil des zweiten neoliberalen Credos: There is no alternative. Es gibt Alternativen, weil unsere Grundlagen kontingent sind.

Marcharts Lektüre ist eine symptomale Lektüre – die Suche nach jenen blinden Flecken, die dieses Moment der Kontingenz von Gesellschaft verleugnen. Was er damit konstruiert, ist kein neues Theoriemonument, das auf dem Betonsockel von fixen Ideen steht, sondern ein „Mobile“, das „mobile Ideen“ – ganz im Sinne des Astaire-Effekts – aneinanderfügt.

Diese Mobile behauptet: Es gibt sie noch, die gute alte Gesellschaft – allerdings hat sie sich verwandelt. Sie ist zu einem postfundamentalistischen Begriff geworden, zu einem „unmöglichen Objekt“. Denn dieses „Objekt“ ist nicht positiv darstellbar. Es ist vielmehr wie ein Unterbewusstsein zu verstehen, das sich nur in seinen Symptomen „äußert“: die „Gesellschaft“ ist nur in ihren Krisen, Störungen, Konflikten präsent.

Wir sind nur dann mehr als ein Haufen von Individuen, wenn diese Gesamtheit nicht funktioniert – lautet die paradoxe These. Wir erfahren Gesellschaft also nicht als Fülle von Zusammengehörigkeit, sondern in der Auseinandersetzung, im Streit, im Konflikt. Deshalb fragt eine postfundamentalistische Theorie nicht: Was ist Gesellschaft?, sondern: Was hindert sie, eine Gesellschaft zu werden? Was sind ihre Blockaden?

Mit dieser Fragestellung läutet Marchart die Rückgewinnung der Gesellschaftskritik ein – einer Disziplin, die schon verloren schien. Die Soziologie habe, so der Autor, den Verunsicherungserfahrungen der Moderne mit der Produktion von neuen „Gewissheitsformeln“ geantwortet. Ihre Aufgabe sei es aber gerade nicht, neue Fundamente für das Zusammenleben zu liefern. Sie habe vielmehr danach zu fragen: Wo liegt die spezifische Kontingenz, was ist der Konfliktcharakter der konkreten Situation?

Und Marchart ist so redlich, im zweiten Teil des Buches selbst eine Antwort auf diese Frage zu versuchen. Eine dieser heutigen Blockaden sei die „Bewegungsgesellschaft“ – die Allgegenwart von Protest. Gleichzeitig sind Proteste, Auseinandersetzungen, Kämpfe genau jene Momente, in denen das unmögliche Objekt Gesellschaft erscheint. Nur im Streit um das Gemeinwohl ist ja das ständig entgleitende Objekt Gesellschaft als „Totalität“ präsent. In jedem Protest – und das ist wohl der brisanteste Befund des Buches – wird also immer zweierlei verhandelt: der je konkrete Inhalt, die einzelnen Forderungen, die aber dadurch, dass sie überhaupt erhoben werden, die Gesellschaft als unmögliches, als unerreichbares Ganzes aufblitzen lassen. Diese Bestimmung von Protest, zugleich Einsatz und Medium des Gesellschaftlichen zu sein – das ist die These, die dieses im besten Sinne streitbare Buch zur Diskussion stellt. ISOLDE CHARIM

Oliver Marchart: „Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft“. Suhrkamp, Berlin 2013, 479 S., 22 Euro