: „Wir öffnen ihnen unsere Herzen“
Aus Damaskus Kristin Helberg
Khaldun steht am Eingang des Universitätsgeländes von Damaskus und wartet auf Flüchtlinge. Als einer von etwa einhundert Studenten verbringt er seine Semesterferien damit, sich um vertriebene Libanesen zu kümmern. Ein grüner Van fährt durch das Tor, Familie Tharhini hat es geschafft. Vier Tage lang hätten sie sich über Nebenstraßen und Schleichwege aus dem Südlibanon nach Syrien durchgeschlagen, erzählt Vater Hussein. „Die Israelis schießen auf Zivilisten“, so der Libanese, „sie nehmen auf niemanden Rücksicht, auch nicht auf Frauen, Alte und Kinder.“ Jetzt ist er froh, mit seinen fünf Kindern in Sicherheit zu sein.
Husseins Frau Afaf beugt sich aus dem Autofenster. Israelische Raketen hätten zwei Nachbarhäuser zerstört und 12 Menschen getötet, sagt sie, darunter eine Familie mit kleinen Kindern. Daraufhin seien sie geflohen – trotz der Gefahren unterwegs. Afaf zeigt ins Wageninnere. Eine Handtasche mit Erinnerungsfotos, Plastiktüten mit Proviant und die Kleidung, die sie am Leib tragen – mehr hätten sie nicht mitgebracht, so die Libanesin mit dem gemusterten Kopftuch. BWL-Student Khaldun steigt zu den Tharhinis ins Auto und begleitet sie zu einem der Wohnheime. Dort registrieren Khalduns Kommilitonen Namen und Alter der Neuankömmlinge, Helfer richten ein Zimmer her. Matratzen, Handtücher, Zahnbürsten, Unterwäsche und drei Mahlzeiten pro Tag – dank privater Spenden fehle es den Flüchtlingen an nichts, sagt der Student.
Syrien kennt sich aus im Umgang mit Vertriebenen. Aufgrund seiner geografischen Lage war das Land schon immer ein Sammelbecken für Gestrandete. Hunderttausende Armenier, Palästinenser und Iraker flohen im Laufe der letzten Jahrzehnte nach Syrien – auf die Gastfreundschaft der Syrer war stets Verlass. Dabei stellen die Flüchtlinge eine große Belastung für das sozialistische und vom Westen isolierte Syrien dar. Die halbe Million Iraker, die in den vergangenen drei Jahren kamen, haben die Mieten und Immobilienpreise in Damaskus explodieren lassen, auch Nahrungsmittel und Benzin sind teurer geworden. Doch die Aufnahme Not leidender Nachbarn hat Programm. Als letzte Bastion des arabischen Nationalismus betrachtet das Baath-Regime die Palästinenser, Iraker und Libanesen nicht als Flüchtlinge, sondern als „Brüder“, ihre Aufnahme gilt als nationale Pflicht. Grundsätzlich brauchen Bürger anderer arabischer Staaten für die Einreise nach Syrien kein Visum, sie genießen sogar die gleichen Rechte wie Syrer.
Im Fall der Libanesen bemühe sich Damaskus freilich ganz besonders, sagt Marwan Kabalan, ein syrischer Politikwissenschaftler. Schließlich gehe es darum, ein angeschlagenes Image wiederherzustellen. Die jahrelange politische Bevormundung und Unterdrückung durch syrische Geheimdienste haben bei den Libanesen Spuren hinterlassen. Seit dem Abzug syrischer Truppen im April 2005 und der neu gewählten anti-syrischen Regierung ist das Verhältnis zwischen Beirut und Damaskus angespannt. In der Krise liege deshalb eine Chance für die beiden Völker, meint Kabalan. „Die Libanesen merken gerade, dass Syrien ein Freund und Israel der Feind ist.“ Außerdem würden sie zwischen Regierung und Bevölkerung unterscheiden. Die Hälfte der Libanesen habe Verwandtschaft in Syrien, erklärt der Politologe, „so ein enges Verhältnis geht nicht kaputt, nur weil die Regierungen sich gerade nicht mögen.“
Ein Großteil der Flüchtlinge kommt deshalb privat unter, erzählt Wissam, eine syrische Chemiestudentin, die im Aufenthaltsraum des Wohnheims mit ein paar Libanesen zusammensitzt. In ihrer Nachbarschaft hätten viele Syrer Libanesen aufgenommen. „Wir öffnen ihnen unsere Häuser und unsere Herzen“, sagt die 25-Jährige. Das schaffe einen neuen Zusammenhalt. Syrien sei schon immer für sie da gewesen, betont Nisrin, eine junge Libanesin aus Saida. Im Gegensatz zu ihren Landsleuten in Beirut und im Norden des Landes haben die Schiiten im Süden die syrischen Soldaten nicht als Besatzer, sondern als Beschützer wahrgenommen. Viele seien in der Vergangenheit gekommen, um dem Libanon zu helfen, sagt Nisrin, auch Amerikaner und Franzosen. „Wo sind sie jetzt?“, fragt die 21-Jährige rhetorisch. „Wenn es darauf ankommt, stehen uns nur die Syrer zur Seite.“ Ihre Cousine Abir, die in Beirut lebt, ist zum ersten Mal in Damaskus. „Ich hätte nie erwartet, dass sich die Syrer so toll um uns kümmern würden“, sagt die 18-Jährige. Sie habe viele Vorurteile gehabt. Am meisten wundert sich Abir darüber, dass niemand sie nach ihrer Konfession fragt. „Die Syrer behandeln alle gleich, egal welcher Religion du angehörst.“
Neben einer Aussöhnung mit den Libanesen könnte das syrische Engagement auch international etwas bewirken. Bei der Evakuierung zehntausender Europäer und Golfaraber aus dem Libanon hätten sich syrische Behörden als hilfreich und unkompliziert erwiesen, erzählen Diplomaten. Sie hätten den Ausländern kurzfristig Unterkünfte zur Verfügung gestellt und Ein- und Ausreiseformalitäten zügig abgewickelt. Die dänische Botschaft bedankte sich dafür sogar per Zeitungsanzeige. Jetzt hofft das Baath-Regime, dass die humanitäre Zusammenarbeit auch zu besseren politischen Kontakten führt. Damaskus möchte sich an der Lösung der aktuellen Krise beteiligen, um am Verhandlungstisch seine eigenen Interessen durchzusetzen: eine Rückgabe der von Israel besetzten Golanhöhen, ein Ende der Isolation sowie eine Garantie, dass Washington keinen Regimewechsel anstrebt und Syriens regionale Rolle anerkennt. Hinter verschlossenen Türen treffen amerikanische und europäische Unterhändler bereits mit syrischen Vertretern zusammen, um Damaskus’ Positionen auszuloten.
Doch solange die israelischen Bombardements im Libanon weitergehen, reißt auch der Flüchtlingsstrom nach Syrien nicht ab. Da die Kämpfe inzwischen weite Teile des Südens erfasst haben, treffen zunehmend Verletzte in Syrien ein. Abirs Großmutter zum Beispiel wurde bei einem Luftangriff am Bein verwundet und kann nicht mehr laufen. Ein syrischer Arzt kümmert sich um die alte Dame, Behandlung und Medikamente sind ebenfalls gratis. Neben medizinischer Versorgung brauchten die Flüchtlinge vor allem psychologische Hilfe, erklärt BWL-Student Khaldun. Die meisten hätten Schlimmes erlebt und machten sich Sorgen um Angehörige, die im Libanon geblieben sind. „Gestern kam ein junges Mädchen zu mir, sie ist allein aus dem Süden geflohen und wollte mit ihrer Familie telefonieren“, erzählt der Syrer. Er gab ihr sein Handy und sie rief ihren Vater an. „Sie weinte und sagte, ‚Papa, warum lügst du mich an?‘ “ Irgendwann hätten er und seine Freunde kapiert, dass ein Bruder des Mädchens tot und ein anderer vermisst sei, so Khaldun. „Wir alle, drei Jungs und zwei Mädchen, saßen am Ende da und weinten.“