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Archiv-Artikel

Proteste gegen die Internetzensur

TÜRKEI Die Polizei geht mit Tränengas und Gummigeschossen gegen Demonstranten in Istanbul vor. Internationale Organisationen ziehen Vergleiche mit den Zuständen im Iran oder in China

BERLIN taz | Mit großer Härte hat die Polizei in Istanbul am Samstag zwei Demonstrationen gegen die vor wenigen Tagen im Parlament beschlossene Internetzensur niedergeschlagen. Die Polizei verhinderte von Beginn an die geplante Demonstration auf dem zentralen Taksimplatz und drängte die Demonstranten in die angrenzende Fußgängerzone ab. Aber auch dort wurden Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt, als mehrere tausend Menschen versuchten, auf der bekanntesten Istanbuler Einkaufsmeile einen Demonstrationszug zu bilden.

Mit Transparenten wie „Internetzensur ist Gedankenzensur“ oder „Fass mein Internet nicht an“, versuchten vorwiegend junge Leute gegen das am vergangenen Mittwoch im Parlament beschlossene Zensurgesetz zu mobilisieren. Durch Gummigeschosse und Tränengasgranaten wurden nach Angaben der Zeitung Zaman sechs Demonstranten so schwer verletzt, dass sie in ein Krankenhaus eingeliefert werden mussten.

Nachdem sich abzeichnete, dass die Polizei rund um den Taksimplatz keine geordnete Demonstration zulassen würde, kam es per Mobilisierung über Twitter innerhalb weniger Stunden zu einer neuen Demonstration in Kadiköy, dem zentralen Stadtteil auf der asiatischen Seite der Stadt. Da die Polizei darauf nicht vorbereitet war, gelang es zunächst, dort einen Demonstrationszug zu bilden. Allerdings waren nach kurzer Zeit auch in Kadiköy Wasserwerfer im Einsatz, und es entwickelte sich eine Straßenschlacht, die bis in den Abend andauerte.

Das Gesetz, gegen das die Demonstranten sich auflehnen, sieht vor, dass die staatliche Kommunikationsbehörde jede Seite im Internet ohne richterliche Anordnung binnen weniger Stunden sperren kann, wenn durch den Inhalt angeblich Persönlichkeitsrechte verletzt werden oder der Inhalt familien- und jugendgefährdend seien soll. Kritik an Regierungsmitgliedern, wie zum Beispiel Korruptionsvorwürfe, kann dann als Verletzung der Persönlichkeitsrechte sofort gelöscht werden. Außerdem wird durch das Gesetz eine umfassende Vorratsdatenspeicherung festgelegt, nach der alle Verbindungen für zwei Jahre gespeichert werden sollen. Die Internetzensur gewinnt mit diesem Gesetz nach Ansicht von Organisationen wie Reporter ohne Grenzen Dimensionen wie im Iran oder in China. Auch der EU-Erweiterungskommissar, Stefan Füle, kritisierte das Gesetz.

Die Internetzensur ist die Konsequenz aus den Diskussionen, die innerhalb der Regierung nach den Gezipark-Protesten im Sommer aufgekommen waren. Da die großen Medien längst alle von der Regierungspartei AKP kontrolliert werden, hatte sich der Protest vor allem im Internet organisiert. JÜRGEN GOTTSCHLICH