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Archiv-Artikel

Das tiefgekühlte Ohr

Hysterie für den Hausgebrauch: Mein Freund ist ein Supermarkt-Stalker

Mein Freund schmuggelt in den anderen Wagen etwas, was da nicht hineingehört

Es begann als Hobby, wie so viele erfolgreiche Geschäftsideen. Mein Freund Gerd hat eine äußerst merkwürdige Freizeitbeschäftigung, man könnte auch sagen, er ist hochgradig pervers.

Gern lungert Gerd in Supermärkten an der Gemüseauslage herum, zählt die Strauchtomaten, befühlt die Rettiche, studiert die Täfelchen mit den Herkunftsländern. Bis er ein Opfer ausfindig gemacht hat. Meist ist es eine Frau um die dreißig, die in großer Eile und ohne Blick für Gerd ihren Einkauf erledigen möchte. Gerd folgt ihr aufmerksam durch die Regalreihen und beobachtet in gebührlichem Abstand seine Zielperson. Im Lauf der Jahre hat er nicht nur ein absurdes Geschick beim Manövrieren des Einkaufswagens entwickelt, den er wie Fernando Alonso seinen Boliden durch die Schluchten von Monaco elegant an Paletten und Sonderangebotskörben vorbeisteuert. Gerd besitzt auch Qualitäten als Profiler. Er weiß: Wer Magermilch kauft, kauft auch gern Gemüsesaft, niemals Kartoffelchips.

Falls jetzt, kurz vor der Kasse, der Frau noch einfällt, dass sie etwas vergessen hat, schlägt Gerd zu. Er schmuggelt in den anderen Wagen etwas, was da nicht hineingehört: drei Päckchen abscheulichen Roibuschtee oder eine Dose „Häckerle“, eine nicht minder abscheuliche Berliner Spezialität, die einmal Heringssalat gewesen sein muss, bevor sie in den Verkauf gelangte. Hinter einer Säule versteckt beobachtet Gerd dann die skurrilen Szenen: „Tja, Gemüsesaft zum Häckerle – wer’s mag …“, sagt die Kassiererin geringschätzig, wenn die Frau alles abstreitet und sich Hilfe suchend umblickt. Gerd bezahlt dann seine Sachen und geht feixend nach Hause.

Leider ist die bisher geschilderte Vorgehensweise die zivilgesellschaftlich einwandfreie Frühform von Gerds eigentlichem Hobby gewesen. Man muss dazu sagen, dass es Gerd nicht leicht hatte und er in seinem abwechslungsreichen und dornigen Lebensweg viel gemacht hat, vom Aktmodell bis zum Mitglied einer Drückerkolonne, vom Eintänzer bis zum Wahlhelfer. Letztere Arbeit hat seinen Hang zum Morbiden noch gesteigert.

Jedenfalls hat Gerd auch einige Zeit im Krankenhaus gearbeitet. In der Anatomie hat er die Leichen vorbereitet, die dann von Medizinstudenten zerschnippelt wurden. Damals hat er eine Menge gelernt über Skalpelle und den menschlichen Körper. Heute weiß er aus seiner Tätigkeit als Leichenwäscher, dass man beim Armenbegräbnis nicht so genau hinsieht – darf ja nicht so viel kosten.

Seither aber hat Gerd eine große Kühltruhe bei sich zu Hause, und immer wenn er mich zu sich einlädt, zeigt er mir seine Sammlung tiefgefrorener Körperteile: ein paar Füße, Ohren, männliche primäre Geschlechtsteile, vor allem aber Hände. Wenn es ihn dann wieder in den Supermarkt treibt, hat Gerd inzwischen keinen Roibuschtee dabei, sondern ein angetautes, in Plastikfolie eingeschweißtes Leichenteil. An alles hat er gedacht, sogar an einen falschen Barcode und das Hinweisschildchen „Nicht wieder einfrieren, sofort verbrauchen.“ Und ein Aufnahmegerät mit einem Richtmikrofon hat er auch dabei.

Wenn die Zeit gekommen ist, schmuggelt Gerd eine Hand oder ein Ohr in den Einkaufswagen und wartet mit dem Richtmikrofon in der Nähe der Kasse. Er meint, es sei gar nicht so einfach, die gellenden Schreie, die wellenartig durch den Supermarkt laufen, richtig auszusteuern. Aber wie im sonstigen Leben spielt auch hier die praktische Erfahrung eine große Rolle. Im Tumult ist es ihm stets möglich, unbeachtet zu entkommen.

Über mehrere Mittelsmänner werden die hausgebrannten CDs dann im Internet für ein hübsches Sümmchen an den Mann gebracht. Gerd ist immer noch erstaunt, wie groß der Markt für Tonträger ist, auf denen Frauen hysterisch schreien. Ich bin da im Zwiespalt. Einerseits ist es nicht ganz in Ordnung, was Gerd da macht. Andererseits ist der kleine Obolus, den ich als einziger Mitwisser von Gerd bekomme, auch wieder nicht zu verachten. ROB ALEF