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Archiv-Artikel

Vergiss mein nicht!

Ferienzeit ist Souvenirzeit. Der Ramsch wird erst durch die individuelle Erinnerung zur Kostbarkeit – und kann deshalb nur von Nichtbetroffenen entsorgt werden. In Frankfurt geht man nun einen neuen Weg: Hier sind die Andenken zu Museumsstücken geworden

AUS FRANKFURT AM MAIN HEIDE PLATEN

Die Erinnerung ist ein Kramladen. Aufgeräumte Menschen nennen sie Kitsch, diese kleinen Staubfänger auf den Regalrändern, an der Kante des Schreibtisches. Vier Schneekugeln, in keiner schneit es. Dann heißen sie, sagt ein Hersteller aus dem Odenwald, Traumkugeln: eine rote Rose im Plastikgehäuse, ein Surfer auf einer Palmeninsel, bunte Perlen in Glibbergelee, zwei tanzende Katzen.

Peinlich! Und wo kommen die Frösche her, in allen Farben, Glas, Keramik, Plastik? Wegwerfen unmöglich. Der abgeliebte Igel bleibt da, die kleine Plüschratte auch. Steine und Muscheln sammeln sich in Schalen und Gläsern, aufgelesen bei Wanderungen, langen Strandspaziergängen, weißer Gips aus dem Südharz, ein versteinerter Seeigel, gefunden auf einem katalanischen Berg, roter Granit und Glimmer von sonst woher. Zum Glück verlieren die Steine meist ihre Geschichte – ihre Fundorte entfallen dem Gedächtnis – und werden entsorgt.

Warum nur sammelt der Mensch? Was haftet einem Hundezähnchen an, einer Babylocke? Das Frankfurter Museum für Angewandte Kunst gründelte tief im Sumpf des Sentimentalen: „Das Souvenir – Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken“ ist ein Parcours zwischen Faszination und Grauen. „Ich war da!“, bewiesen sich die mittelalterlichen Pilger, Kreuzfahrer mit ihren Reliquien, Überbleibseln aus dem Heiligen Land. Schon damals Kommerz: geweihtes Wasser, heiliges Öl, 19 Vorhäute Jesu zählten Historiker, aberdutzende Fingerknöchel von einem einzigen Heiligen, Kreuzsplitter und -nägel als Massenware. Wie lang war eigentlich die Berliner Mauer? Im Jahr 1466 wurden 130.000 Jakobsmuscheln an Wallfahrer nach Santiago de Compostella verkauft. Schon die Ägypter vermarkteten das hübsche Köpfchen von Königin Nofretete in Fließbandmanier.

Die Dinge, so die Ausstellungsmacher, bekommen ihren immateriellen Wert, werden aufgeladen durch die einzigartige, persönliche Erinnerung. Dennoch muss das Erinnern einen anderen, mystischeren Charakter gehabt haben, Memento mori, zu Zeiten, als sich Angehörige aus den Haaren ihrer lieben Verstorbenen Bilder flechten ließen, kunstvolle, fragile Gebilde: „Haare von Mama Chair“, braungolden im schweren Rahmen. Und: „Heinrich Weiss trauert um Fanny, geb. Hofmann“, der schlichte Zopf von „Marie“. Die Ausstellung widmet der traumatischen Erinnerung besondere Aufmerksamkeit. KZ-Häftlinge hoben nach der Befreiung Judensterne und Gefangenenkleider auf, ein Gürtel, aus einer Handtasche geschnitten, getauscht gegen ein Stück Brot. Nichts soll vergessen sein.

Schöner Schein oder böser Traum, im 18. Jahrhundert flicht die Liebe dem Andenken Kränze auf Fächern, Tanzkärtchen, Kaffeetassen. Das Souvenir als Mitbringsel reüssierte erst im 19. Jahrhundert, als Fortbewegung nicht mehr nur Pilgerfahrt oder zwangsweise Wanderung war, sondern auch Entdeckungs- und Vergnügungsreise. Die Hochzeit der Miniaturnachbildungen beginnt im Seelenland Italien und anderswo zuerst mit Korkmodellen, relativ maßstabsgerecht und leicht zu transportieren. Und dann ist kein Halten mehr für die winzigen Antikennachbildungen, die Eiffeltürme, Brandenburger Tore, Grabeskirchen, Kolossums, Empire State Buildings. Heutzutage werden sie in Asien gefertigt, jeder Tourismusverein erfindet sich sein eigenes Label. Und nichts gibt es mehr, worauf sich das nicht drucken ließe.

Manches Erinnerungsstück ist der pure Selbstbetrug, denn die meisten T-Shirt-Träger surften nicht in Hawai, studierten nicht in Oxford und meditierten nicht bei den Hopi, sondern kauften das Billighemd im Billigshop in Frankfurt-Sossenheim.

Und, wir wissen es längst, Erinnerungssüchtige, die den Augenblick konservieren wollen, klauen. Vor allem das, was sie eigentlich gar nicht brauchen können: Zuckerdosen, Handtücher mit Hotelaufdruck und ähnliche Dinge. Fürst Franz von Sachsen-Anhalt kannte seine Pappenheimer. Er ließ 1798 im Wörlitzer Park Schilder anbringen, die mahnten, dass die Besucher doch bitte „die Güte“ haben sollen, „nichts zu vernichten, zu zertreten oder abzureißen“ und klagte: „Aber leider ist die Unbescheidenheit einiger sogahr bis zum äußersten, bis zum entwenden ihnen gantz unnützer Dinge gegangen.“ Dabei machte der Regent während seiner Reisen selber gerne lange Finger, sackte für seine Wunderkammer in englischen Gärten und römischen Ruinen ein und nannte das „gefunden“ oder „aufgehoben“.

Das allerpeinlichste aber sind die Mitbringsel der bedauerlicherweise ebenfalls reisenden Verwandten und Freunde. Und so sitzt in meinem Regal ein hölzerner thailändischer Drache, umwickelt mit den quietschbunten Armbändern aus Senegal, neben einem silbergrünen Windlicht von der Costa Brava. Immerhin: Die Keramikente, Aufschrift „Bad Reichenhall“, liegt in der Schublade, bis sich die Schwägerin zum Besuch anmeldet.

In heutigen Zeiten haben auch die romantischen Andenken ihre Naivität verloren. Winzige Feuerwehrleute auf stilisierten Trümmern irren in einer Schneekugel über „Ground Zero“, die Trümmer der New Yorker Twin Towers, Umweltschützer lassen schwarzen Schnee rieseln. Theodor W. Adorno schrieb 1959 über den berühmtesten Schneekugelsammler, Walter Benjamin: „Ihn sprachen die versteinerten, erfrorenen und obsoleten Bestandstücke der Kultur, alles an ihr, was der anheimelnden Lebendigkeit sich entäußerte, so an, wie den Sammler das Petrefakt oder die Pflanze im Herbarium.“ Elektronisches Gerät komprimiert die Erinnerung. Und so wird auch die taz zum Museumsstück, zumindest jener Touché-Comic, bei dem die Ex beim Beziehungskrach das Handy ins Wasser wirft, und der Verlassene über den Verlust jammert: Musik, Hörbücher, Videos, Adressen, SMS, alles weg. Der Bademeister tröstet: „Sei froh! Vor ein paar Jahren hätte sie dafür noch deine ganze Wohnung anzünden müssen.“ Ein anderer schöner Gedanke: Mit dem Ableben stirbt auch die individuelle Erinnerung, die den Dingen inne ist, und die Verwandtschaft muss den ganzen Ramsch entsorgen.

„Das Souvenir – Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken“, Museum für Angewandte Kunst, Frankfurt am Main, noch bis zum 29. Oktober 2006