piwik no script img

Archiv-Artikel

Im Geisterdorf

AUS KANA KARIM EL-GAWHARY

Das große Unglück hat zum zweiten Mal zugeschlagen. Es kam nach Kana erneut von Süden, immer aus Richtung der benachbarten israelischen Grenze. „Dorf der Massaker“ nennen die Libanesen den Ort. Hier starben vor drei Tagen 56 Menschen, als eine Bombe der israelischen Luftwaffe in ein Haus einschlug, in dem überwiegend Frauen und Kinder Schutz gesucht hatten. Schon einmal, vor zehn Jahren, kamen in Kana 102 Menschen um. Sie hatten geglaubt, im hiesigen UN-Lager sicher zu sein vor der israelischen Operation „Früchte des Zorns“. Ein Fluch liege auf diesem Dorf, sagen die Abergläubischen, er treffe jene, die sich in Sicherheit wähnen.

Abergläubisch oder nicht – in Kana will niemand mehr sein Schicksal herausfordern. Sogar ihr Wertvollstes haben die Bewohner zurückgelassen: ihre Tiere. Ein Esel sucht auf der leeren Dorfstraße verzweifelt nach Wasser, aber der Trog ist leer. Neben ihm steht eine Kuh, sie wird nicht mehr gemolken. Der Tabak hinter den Häusern trocknet auch ohne Menschenhand. M und F, die sich an der Wand mit Herz und Pfeil ihrer Liebe versichert haben, sind genauso geflohen wie der Bewohner des Nachbarhauses: Im Vorzimmer steht sein Rollstuhl, an der verbliebenen Wand hängt ein Porträt des Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah. Die Bomben haben die Fensterscheiben zerstört, man schaut in das private Innere der Häuser. Lebt dieses Kind noch oder war es eines von denen, die im Schutzraum umgekommen sind, ist die Frage, die sich beim Blick auf ein Kinderporträt an der Wand stellt. Hat das Kinderfahrrad vor dem Haus noch einen Besitzer? Wird jemand zurückkommen und seine Wäsche von der Leine nehmen?

Vor dem komplett eingestürzten Haus, das vor drei Tagen für so viele Menschen zur Todesfalle wurde, sitzt Abbas Haschem auf einem Trümmerhaufen. Der 29-Jährige hat die Beine angezogen, sein Kinn liegt auf den Knien, er schaut in die gespenstische Leere seines zerstörten Hauses. Für den Bauern gibt es nichts mehr, das es wert wäre zu fliehen – Abbas Haschem ist einer der wenigen Überlebenden. Er erzählt von den letzten Minuten derer, die nun tot sind. In dieser Nacht seien sie 65 Menschen gewesen, „wir waren alle miteinander verwandt“. Dann zählt er sie auf: seine Brüder und Schwestern, seine Schwägerinnen, Onkel und Tanten, natürlich alle Kinder. Namen von Toten.

Binnen Minuten kam der Tod

„Es war ein Uhr morgens, wir schliefen im Schutzraum, als wir den ersten Angriff hörten“, erzählt er. Kurz darauf sei eine Bombe ganz in der Nähe eingeschlagen, eine Wand des Raumes sei eingebrochen. Er und sein Bruder, die direkt an der Wand lagen, seien von der Druckwelle hinausgeschleudert worden, womöglich war das ihre Rettung. „Ich hatte noch gar nicht verstanden, was los ist“, erinnert er sich, „da schlug die zweite Rakete direkt ins Haus ein.“

Nur ein paar Minuten dauerte der Angriff. „Ich habe nichts mehr gesehen, überall war Staub und alles war dunkel, der Strom war ausgefallen“, erzählt Abbas Haschem. Zuerst hat er noch ein paar Schreie gehört, dann wurde es totenstill. Mit bloßen Händen wühlten er und sein Bruder sich durch den Schutt – „wir konnten ja nichts tun, bevor es hell wurde“. Dann riefen sie endlich das Rote Kreuz an. „Aber auf dem Weg hierher wurde direkt vor ihnen die Straße beschossen – sie mussten wieder umkehren“, erzählt er.

Am Morgen dann kam schließlich das Militär und mit ihm auch schon die ersten Journalisten. Sie begannen zu graben, bis sie ein Wimmern hörten. Acht Verletzte konnten sie noch rausholen. Der schlimmste Moment, sagt Abbas Haschem, sei der gewesen, als sie die tote Frau seines Bruders herausholen mussten, sie hielt das tote Neugeborene im Arm.

Neben dem Haus steht Donatella Rivera. Im Auftrag von Amnesty International untersucht sie die Umstände des israelischen Angriffes, der so viele Zivilisten das Leben gekostet hat. „Die Informationen, die wir haben, werfen ernsthafte Fragen auf“, sagt Rivera. „Warum wurde auf das einzige Gebäude gezielt, in dem sich Menschen aufgehalten haben – in einer Gegend, die ansonsten verlassen war?“ Und sie fährt fort: „Haben die israelischen Aufklärungsdrohnen, die ständig über den Ort fliegen, nicht die Menschen gesehen, die seit mindestens zehn Tagen hier nachts Schutz gesucht haben und die sich tagsüber klar sichtbar draußen aufgehalten haben?“

Eigentlich, erklärt sie, sei überhaupt nicht vorstellbar, dass die israelische Armee nicht von den vielen Frauen und Kindern wusste, die sich in dem Gebäude aufgehalten haben.

„Flieht, so weit ihr könnt!“

Den israelischen Einwand, die Hisbollah operiere aus Kana heraus, will sie nicht gelten lassen. „Wenn die israelische Armee auf feindliches Feuer antwortet, dann schießt sie in der Regel nicht gezielt zurück, sondern feuert vage in die Richtung, aus der der Angriff kommt – ohne Rücksicht auf Zivilisten“, beschreibt sie ihre Erfahrungen der letzten beiden Kriegswochen. Die zahlreichen in Kana zerstörten Häuser scheinen ihr Recht zu geben. Nicht alles sei erlaubt in einem kriegerischen Konflikt, sagt Rivera, schließlich gebe es die Genfer Konvention. Und da sei die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Militär eines der entscheidenden Prinzipien.

Das, was in Kana geschehen ist, müsse in einem größeren Rahmen gesehen werden. Die meisten Toten im Libanon seien nicht Hisbollah-Kämpfer, sondern Zivilisten, darunter viele Kinder. „Die Israelis haben auf Menschen geschossen, die versuchten, in ihren Autos zu fliehen, nachdem sie Flugblätter abgeworfen hatten, in denen sie die Bevölkerung zur Flucht aufriefen“, sagt Rivera.

Die Straßen der Umgebung von Tyros sind tatsächlich voll mit ausgebrannten Autos, manche liegen direkt in den Bombenkratern. Ganz Tyros ist übersät mit den Flugblättern, die aus den israelischen Militärflugzeugen abgeworfen wurden. „Flieht so weit weg, wie ihr könnt, und rettet euch!“, steht da auf Arabisch.

Abbas Haschem, der binnen Minuten drei Generationen seiner Familie verloren hat, hat für die israelische Version, die Hisbollah habe in der Nähe seines Hauses Raketen abgefeuert, nur ein Kopfschütteln übrig. „Wenn dass passiert wäre, wären wir sofort abgehauen. Jeder weiß doch, wie die Israelis darauf antworten“, sagt er. „Glaubst du wirklich, wir hätten uns dann sicher gefühlt und sogar unsere Kinder hier gelassen?“, fragt er. „Welche Eltern der Welt würden sich mit ihren Kindern an einem Ort verstecken, von dem aus die Hisbollah Raketen in Richtung Israel schießt?“