Gestachelt durch Venedigs Gassen

„Das Schneehuhn ist mein Lieblingstier“: Die isländische Künstlerin Sigridur Dóra Jóhannsdóttir liebt die Farbe Weiß und störende Performances und wirkt bei Gericht als atmosphärische Seismographin. Manchmal fegt sie auch den Markusplatz. Derzeit ist sie in Hamburg zu Gast

„Weiß ist der Ursprung aller Farben. Es birgt alle Möglichkeiten“

von PETRA SCHELLEN

Ihre Lieblingsfarbe ist weiß. Weiß in allen Schattierungen, und die sind ja durchaus zahlreich. Und da ist es letztlich vielleicht nicht überraschend, dass das Lieblingstier von Sigridur Dóra Jóhannsdóttirs das Schneehuhn ist, ist sie doch in Island aufgewachsen. Und hat die meiste Zeit ihres Lebens – abgesehen von sechs Hamburger Jahren in den 1980ern – in karger Landschaft verbracht.

Von Juni bis Oktober ist das Land oft schneebedeckt. Doch das stört die Künstlerin, die derzeit für zwei Monate das Gastatelier des Hamburger Künstlerhauses Frise bewohnt, nicht. Und dass der Blick hier an der Elbe frei in die Ferne schweifen kann, mag sie schon gar nicht bestätigen: „Viel zu viele Bäume“, sagt sie spontan. Bei ihrem ersten Aufenthalt habe sie sich richtig eingeklemmt gefühlt, wie in einem finsteren Wald. „Das empfindet man einfach so, wenn man aus einem Land kommt, in dem der Horizont unendlich ist.“

Obwohl Island – abgesehen von der weitgehend fehlenden Vegetation – so farbarm nun auch wieder nicht ist. Nur die Farbe Grün gibt es fast gar nicht. Und da hat sich Sigridur Jóhannsdóttir wohl gedacht, dass man auf den Rest des Spektrums auch gleich verzichten könnte. Denn: „Weiß ist die Quelle aller Farben.“ Ihre Verdichtung, ihr Anfang und ihr Ende. Im Weiß sind alle anderen Farben enthalten – als Entwurf sozusagen. „Da ist noch alles möglich“, sagt die Künstlerin, die schon während ihres Studiums in Reykjavik konsequent weiße Installationen erschuf: Schrankartige Aufbauten, mit einer entfärbten Matte und einem weißen Lammherz, dem sie das Blut entzogen hatte, konstruierte sie damals. Und einen Teppich aus „Dirty Pages“, jenen ersten Seiten jedes Buches, die angeblich fürs Fingerabwischen vor Beginn der hochgeistigen Lektüre gedacht sind.

Mit all dem fuhr sie gar nicht schlecht: Von 2004 bis 2006 setzte sie ihr Studium in Venedig fort, auch dort teils in Weiß auftretend, und immer ein bisschen irr: in einem astronautenartigen Kostüm, gespickt mit stacheligen Taubenzäunen, wie sie Fensterbänke und Skulpturen vor dem nämlichen Federvieh schützen sollen. „Ich hatte das noch nie zuvor gesehen und fand es absurd, dass die Renaissance-Skulpturen diese Stacheln auf dem Kopf trugen“, erzählt sie und lacht. „Ich bin dann in meinem Igel-Kostüm durch die schmalsten Gassen von Venedig gelaufen.“ Kein Vergnügen für die Passanten, das gibt sie schon zu und grinst. „Aber manche Dinge müssen eben sein.

Wie auch ihre Reinigungs-Aktion auf dem Venezianer Markusplatz. „Ein paar Stunden habe ich dort gefegt, die Fundstücke zusammengetragen und zwei Tage lang von bewaffneten Sicherheitskräften bewachen lassen.“ Sie schätzt das Abseitige sehr, bleibt stets unberechenbar und freut sich, dass ihr Hamburg noch aus der Vergangenheit vertraut ist. „Es ist schön: Man kennt alle Orte, auch ein paar Menschen, es ist ein bisschen wie Heimat.“ Nun ja, ein bisschen größer als ihre eigene Heimat schon: In Akureyri, der viertgrößten Stadt Islands ist sie aufgewachsen. 16.000 Einwohner zählt der Ort. Nicht sehr viel, oder? „Ach, das ist eine Frage der Gewohnheit.“ Jóhannsdóttir lächelt milde.

Sie lässt sich nicht beeindrucken durch die Klischees des Kontinentaleuropäers und spricht unvermittelt von der großen Hitze, die Reykjavik in den nächsten Tagen heimsuchen werde. „Denkt euch, 20 Grad!“ Was sie gerade in Hamburg tut? Zum Gericht geht sie da, wie sie es schon in Venedig getan hat. Als stille Zuhörerin hat sie sich dort in Verhandlungen gesetzt und Rhythmus und Sprachmelodie in seismographischen Kürzeln mitgeschrieben.

Herausgekommen sind steno-artige Kurven, mal geschwungen, mal spitzig, mal dichtgedrängt, mal großzügig platziert. Wofür die einzelnen Kürzel stehen? „Das muss jeder selbst herausfinden“, sagt Jóhannsdóttir – und gibt gern zu, dass auch sie die Zeichen nach der Niederschrift nicht mehr deuten kann. Wobei das mit Rhythmus und Sprachmelodie in Italien einfacher war: Sie beherrschte die Sprache nicht und konnte sich ganz auf die musikalische Wahrnehmung konzentrieren. Im deutschen Gerichtssaal versteht sie nun alles, und das macht die Übertragung in abstrakte Zeichen schwer – insbesondere dann, wenn sie in Mord- oder Vergewaltigerprozessen sitzt und die Opfer erzählen. „Das ist dann schon hart.“ Warum sie sich das antut? „Ich möchte mich dem jetzt aussetzen. Und mehr als zwei, drei Stunden täglich sitze ich da ja auch nicht.“

Die Prozesse sucht sie zufällig aus, schont sich nicht und hat schon eine beträchtliche Anzahl „Matten“, wie sie ihre Skizzenblätter nennt, zusammengetragen. Dokumente der anderen Art, die sie zu großen Wandbehängen zusammenfügen wird. Und wer weiß: Vielleicht ist Schrift nicht weniger kryptisch als dokumentarische Zeichnungen, vielleicht geben ihre Kurven Atmosphärisches auf eine Art wieder, die nur begreifen kann, wer hochsensibel ist? Aber das ist auch egal: Die Dinge mit wahlweise ästhetischem oder dokumentarischem Blick zu betrachten, steht jedem frei. Und wann Sigridur Jóhannsdóttir genug davon vollgeschrieben haben wird, das weiß sie nicht.

Was sie anlässlich der Ausstellungseröffnung im Künstlerhaus Frise performen wird, weiß sie dagegen sehr wohl. Aber sie verrät es nicht. Überraschung muss sein, findet sie. Ein Weißraum für alle Möglichkeiten eben.

Die Ausstellung „Wie sehen Sie ihre Zukunft“ mit Werken von Sigridur Dóra Jóhannsdóttir wird am 18. 8. im Hamburger Künstlerhaus Frise eröffnet