: Schweigen schadet hin und wieder nicht
VERSCHWENDUNG Sein Talent als guter Schriftsteller setzt der österreichische Autor Norbert Gstrein in „Die ganze Wahrheit“ für eine Rache an seinem ehemaligen Verlag ein und geht in einem Wirbel aus Gemeinplätzen unter
■ Der Autor: Norbert Gstrein, geboren 1961 in Tirol, debütierte im Jahr 1988 mit seiner Erzählung „Einer“ im Suhrkamp Verlag. Auch sein erfolgreichster Roman „Die englischen Jahre“ erschien 1999 bei Suhrkamp. Mit seinem Roman „Die Winter im Süden“ (2008) wechselte Gstrein zum Hanser Verlag. Dessen Leiter Michael Krüger ist nicht nur Verleger, sondern auch Schriftsteller. Seine Bücher publiziert er bei Suhrkamp – angesichts von Gstreins neuem Roman eine durchaus pikante Konstellation.
■ Die Verlegerin: Ulla Unseld-Berkéwicz ist ebenfalls Schriftstellerin und heiratete den Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld 1990. Nach dessen Tod im Oktober 2002 wurde sie zunächst in die Geschäftsführung aufgenommen und ein Jahr später zur Verlegerin. Viele namhafte Autoren haben seitdem den Suhrkamp Verlag verlassen, darunter Martin Walser, Daniel Kehlmann, Adolf Muschg und Katharina Hacker. Ulla Unseld-Berkéwiczs Buch „Überlebnis“ über das Sterben von Siegfried Unseld sorgte 2008 für Aufsehen.
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Eine persönliche Geschichte vorweg: Vor einigen Jahren saß ich um die Nachmittagsstunde mit einem befreundeten Suhrkamp-Autor in einer Frankfurter Apfelweinwirtschaft. Siegfried Unseld war damals schon tot, Suhrkamp aber noch in Frankfurt und die Welt halbwegs in Ordnung. Der befreundete Autor sagte, dass er am Abend mit seinem Lektor und seiner Verlegerin zum Abendessen verabredet sei. Man traf sich zu solchen Anlässen ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Einige Stunden später fuhr ich mit dem Auto auf dem Frankfurter Anlagenring und sah schräg vor mir die elegante Silhouette des Suhrkamp-Verleger-Jaguars, sofort erkennbar am Kennzeichen F-SU. Im Fond glaubte ich die charakteristische schwarze Lockenfrisur der Verlegerin zu erkennen. Ich überholte, blickte nach rechts, war mir sicher, das Gesicht der Verlegerin hinter der Glasscheibe zu sehen, grüßte freundlich und fuhr weiter. Es war 19.30 Uhr.
Am späten Abend traf ich den befreundeten Suhrkamp-Autor erneut, wieder in der Apfelweinwirtschaft, und erzählte von dieser Begegnung. Er schaute mich mit einem merkwürdigen Blick an und versicherte mir, dass er von 19 bis 21.30 Uhr mit seiner Verlegerin und dem Lektor in jenem Restaurant außerhalb von Frankfurt gesessen habe.
Hat diese Frau also einen Astralleib, der sich schwebend durch Raum und Zeit bewegen kann? Ließ sie zu ihrer Frankfurter Zeit Doppelgängerinnen in ihrer Verleger-Limousine durch Frankfurt fahren, so wie manche Diktatoren es zu tun pflegen? Oder hatte ich mich, die wahrscheinlichste Variante, schlicht getäuscht?
Die Verlegerin heißt natürlich Ulla Unseld-Berkéwicz. Und jeder, der auch nur annährend mit dem Literaturbetrieb zu tun hat, dürfte zumindest schon einmal eine merkwürdige Geschichte über Ulla Unseld-Berkéwicz gehört haben, wenn nicht gar selbst erlebt, und wenn er sie nicht selbst erlebt hat, kann er zumindest behaupten, sie selbst erlebt zu haben, weil jeder andere aus dem Literaturbetrieb die Geschichte sofort zu glauben geneigt ist, sei sie auch noch so abstrus.
Ulla Unseld-Berkéwicz ist, spätestens seit dem Tod ihres Ehemannes Siegfried Unseld im Oktober 2002, spätestens seit sie sich zur Verlegerin aufgeschwungen hat, zur mythischen Figur geworden; zu einer Feuilletongestalt, die mit der Realität des Tagesgeschäfts möglicherweise gar nichts mehr zu tun hat.
Und deswegen, noch einmal, ist man geneigt, alles, was an Gerüchten über sie durch den Buschfunk des Literaturbetriebs rauscht, zumindest für glaubhaft zu halten, wenn nicht gar für die Wahrheit. „Die ganze Wahrheit“, so heißt auch der neue Roman des Österreichers Norbert Gstrein, einer der nicht eben wenigen Autoren, der im Streit mit der Verlegerin aus dem Suhrkamp Verlag geschieden ist. Der perfide Ansatzpunkt seines Romans ist genau jene Kippsituation zwischen Authentizität und bösartiger Kolportage.
Um jegliche Einsprüche abzuwehren: Ja, Gstreins fiktiver Verlag hat seinen Sitz in Wien, nicht in Frankfurt. Sein Glück Verlag, benannt nach dem Verleger Heinrich Glück, ist auch nicht das Zentrum eines intellektuellen Diskurses, sondern eher eine Klitsche, deren beste Zeit wohl vorüber ist. Und trotzdem wird niemand ernsthaft bestreiten wollen, dass die einzige Figur, die Gstreins rund 300 Seiten langen Text trägt, ihn vorantreibt, strukturiert, der er zu Füßen liegt und auf die er herabblickt, die Verlegerin Dagmar Glück alias Ulla Unseld-Berkéwicz ist.
Läppische Fiktionalisierung
Allzu routiniert, gar ein wenig läppisch sind die Fiktionalisierungsversuche, die Gstrein auf den ersten Seiten unternimmt: „Man hat mir abgeraten, darüber zu schreiben“, so lautet der erste Satz, und der Autor selbst hat im Vorfeld des Erscheinens eingeräumt, dass ihm davon tatsächlich abgeraten worden sei, unter anderem von Joachim Unseld, dem verstoßenen Stiefsohn.
Der Erzähler von Gstreins Roman ist sozusagen das Faktotum des Verlags: Ein langjähriger Lektor und Vertrauter des Verlegers; ein Mann der alten Schule, der zwischen Faszination und Abgestoßensein hin und her pendelt. Sein Sündenfall im Glück Verlag ist seine Weigerung, Dagmars Manuskript über das Sterben ihres Mannes zu lektorieren, was ihn am Ende nicht davon abhält, sich darüber in aller Ausführlichkeit auszulassen. „Überlebnis“, das Trauerbuch der Unseld-Witwe von 2008, lässt grüßen.
Die biografischen Daten der Verlegerin Glück sind selbstverständlich erfunden: Dorfkindheit in Kärnten, „ein abgeschiedenes Karawankental“ et cetera. Was bleibt, ist das, was ohnehin geraunt wird – die ganz unmerkliche Aneignung einer jüdischen Identität, das darum herum zelebrierte Mysterienspiel, das Wabernde, Dunkle, Theatralische.
„Die ganze Wahrheit“ – das ist das, was Dagmar Glück stets im vertraulichen Zwiegespräch über andere erzählt. „Die ganze Wahrheit“, das ist ihr Versuch einer persönlichen Demontage mit den Mitteln des Gerüchts, verkleidet in das Gewand einer vermeintlich diskreten Enthüllung. „Am Ende“, so heißt es im Roman, „erinnert sich kein Mensch, von wem diese Anschuldigung kommt. Sie bleibt an dir kleben, und niemand will auch nur wissen, ob sie überhaupt stimmt.“ Selbiges gilt für Gstreins Roman.
Nichts lässt er aus, kein Klischee (nicht ohne zuvor zu betonen, dass das Gesagte nun bestimmt nach Klischee klingen würde): Spiritismus, Voodoo, schwarze Magie, wachsbleich geschminktes Gesicht, einen fünf- und einen sechszackigen Stern um den Hals, die plötzlichen Ambitionen, schriftstellerisch tätig zu werden und eine damit verbundene merkwürdige Form von „Sexualesoterik“, die sich in ihren Büchern Bahn bricht.
Ungreifbares und Alkoholabstürze
Spekulatives, Ungreifbares. Auf der anderen Seite: Das laute, vulgäre Lachen, ihre Vorliebe für Säuferkneipen, die Alkoholabstürze. Und vollpissen muss sie sich natürlich auch, gleich zweimal, damit es jeder merkt.
Wie gesagt, Norbert Gstrein, der dem Verlag seit den 80er Jahren verbunden war, ist nicht im Guten von Suhrkamp geschieden. Wie so viele andere, wie Adolf Muschg, Daniel Kehlmann, Katharina Hacker oder Martin Walser. Nur dass sich dessen „Tod eines Kritikers“ gegen Gstreins Roman noch wie eine subtile und sogar kurzweilige Satire ausnimmt.
Denn die entscheidende Frage im Zusammenhang mit „Die ganze Wahrheit“ ist nicht: „Warum hat Norbert Gstrein dieses Buch geschrieben?“, sondern: „Wer soll seinen Roman lesen wollen?“ Das Brodeln, das „Die ganze Wahrheit“ in den vergangenen Monaten erzeugt hat, beschränkt sich tatsächlich auf einen kleinen Kreis von Feuilletonisten, die nach der Lektüre enttäuscht sein müssen – steht nichts Neues drin. Für den größeren Kreis der Leser dagegen dürfte es vor allem interessant sein, dass Norbert Gstrein in diesem Fall seine ohne Zweifel vorhandene Könnerschaft auf dem Altar der Rache geopfert hat. Denn es ist ja nicht so, als wäre Gstrein nicht ein sehr guter Schriftsteller, als hätte er nicht eine recht unverwechselbare Sprache – allein hier geht das unter im Wirbel aus Gehässigkeit und Gemeinplätzen.
Wenn es Norbert Gstrein um die Darstellung einer privaten Machtinszenierung gegangen sein sollte oder gar um die Darstellung zweier divergierender ästhetischer Haltungen, dann ist ihm die Plattheit der eigenen, angeblich erfundenen Figur dazwischen geraten. Denn was soll man von einem Charakter halten, der selbst in seiner vermeintlichen Abgründigkeit banal ist? Der das Foto einer Selbstmörderin betrachtet und nichts anderes zu sagen weiß, als dass so viel Glück und Traurigkeit zugleich kein Mensch lange ertragen könne?
Es ist ein Grundmotiv in Norbert Gstreins Werk, die erzählte Geschichte und damit den Wahrheitsgehalt von Literatur auf einer zweiten Ebene permanent zu hinterfragen, so auch im Fall von „Die ganze Wahrheit“. Auf den letzten Seiten erinnert sich der Ich-Erzähler an seine einzige Begegnung mit Siegfried Unseld, dem echten Heinrich Glück also, auf der Frankfurter Buchmesse. Der habe sich, so erinnert sich der Erzähler, einfach nur vor ihn hingestellt und ihn angeblickt, dreimal hintereinander „so“ gesagt und dann geschwiegen. Das Schweigen schadet hin und wieder nicht.
Der Literaturbetrieb ist ein Irrenhaus, in dem sich jeder als Wärter und niemand als Insasse begreift. Diese Erkenntnis macht Norbert Gstreins Möchtegern-Skandalbuch nicht angenehmer. Aber sie erklärt, wie es dazu kommen konnte.
■ Norbert Gstrein: „Die ganze Wahrheit“. Roman, Carl Hanser Verlag, München 2010, 304 Seiten, 19,90 Euro