: Lecker’ Giraffe
NATUR War es richtig, die junge dänische Giraffe Marius zu töten? Darüber kann man streiten – nicht aber über ihre Verfütterung an eine Löwenfamilie im Kopenhagener Zoo
VON HEIKO WERNING
„Zoo-Skandal in Dänemark“, „Giraffen-Drama“, „Zoo brutal“, „Unfassbar“, „Makaber“, „Die Welt ist entsetzt!“ Die Bild kriegt sich gar nicht mehr ein vor Empörung, weil eine „erst 18 Monate junge und kerngesunde“ Giraffe vom Personal des Zoos von Kopenhagen getötet, in einer öffentlichen Sektion auseinandergenommen und abschließend an die benachbarten Löwen verfüttert wurde. Der notorische Franz Josef Wagner halluziniert dazu: „Der Hals einer Giraffe ist schöner als der Hals eines Schwans oder einer Claudia Schiffer. Eine Giraffe ist das schönste Model Afrikas.“ Womit der Vorgang im Zoo also auf der Ebene eines Frauenlustmordes angekommen wäre. Passend dazu „verhört BILD den herzlosen Zoo-Chef“ und präsentiert auch gleich die Tatwaffe: „Mit diesem Gewehr wurde Marius erschossen!“
Es scheint für viele Tierfreunde eine ebenso überraschende wie schockierende Erkenntnis zu sein, dass Löwen sich von Fleisch ernähren – anders ist die Aufregung um den an sich wenig bemerkenswerten Umstand, dass ein paar Raubkatzen eine Giraffe verputzen, nicht zu erklären. Im Gegensatz zu seinen Schicksalsgenossen in der afrikanischen Savanne allerdings hatte der Fleischlieferant im Zoo von Kopenhagen einen Namen, Marius, war dort geboren und von begeisterten Zoobesuchern gefeiert worden. Allerdings gab es mit Marius ein Problem, und das Bolzenschussgerät machte aus dem ehemaligen Publikumsliebling kurzerhand Löwenfutter.
Nun tobt ein enthemmter Mob, Morddrohungen und Todeswünsche an den Zoodirektor Bengt Holst werden via Facebook, Twitter, per SMS und Mail im Minutentakt ausgesprochen („Ich komme und erschieße dich“, „Ich hoffe, Sie sterben einen grausamen Tod“), Kommentarspalten laufen über vor Verbalentgleisungen von Tierfreunden, die den Vertretern der eigenen Art offenbar nicht sehr viel abgewinnen können. Beim neuerdings so beliebten Instrument der Online-Petition hatten über 25.000 Unterzeichner gefordert, das Huftier zu verschonen – und hätten vermutlich wenig Bedenken gehabt, im Austausch dafür Markus Lanz anzubieten. Nun fordern sie wenigstens den Kopf des Zoodirektors.
Voller Wut wird allüberall darauf hingewiesen, Marius sei doch gesund und „unschuldig“ gewesen. Als ob die Kühe, Schweine oder Pferde, die täglich denselben Weg gehen, sterbenskrank oder an irgendetwas schuldig wären. Wie überhaupt die entscheidende Frage lautet: Was ist so schlimm daran, eine Giraffe zu verfüttern? Die Löwen hätten alternativ keine Tofu-Bratlinge angenommen. Raubkatzen fressen Tiere, so einfach ist das. Und vom tierschützerischen Gesichtspunkt aus ist eine Giraffe um nichts wertvoller oder leidensfähiger als eines der Tiere, die sonst gefressen werden. Im Gegenteil: Zumindest hatte Marius ein schönes Leben, bis er final die Löwen erfreute, ganz anders vermutlich als deren sonstige Mahlzeiten. Der Giraffen-Jüngling war sozusagen bestes Biofleisch aus tiergerechter Haltung, seine Tötung verlief zudem fachgerecht.
Auch aus Artenschutz-Sicht spricht nichts gegen den ungewöhnlichen Lunch. Zwar sind Giraffen durchaus bedroht. Gerade auch deshalb ist es sinnvoll und wichtig, sie in zoologischen Einrichtungen zu halten und zu vermehren. Aus demselben Grund ist es aber zwingend erforderlich, die Zuchtbemühungen international zu koordinieren, um langfristig eine genetisch gesunde und vielgestaltige Population in menschlicher Obhut zu erhalten. Deshalb werden von der europäischen Zoo-Vereinigung, der EAZA, Zuchtbücher geführt, in denen festgelegt wird, welche Tiere wo leben und sich fortpflanzen dürfen – und welche eben ausscheiden aus dem Rennen, so wie Marius. Der hätte damit zwar durchaus noch weiter leben können, hätte ein anderer EAZA-Zoo ihn aufgenommen; dafür stand aber niemand zur Verfügung. Irgendein Rind wird dafür sehr dankbar sein.
An Nicht-EAZA-Mitglieder dürfen Zuchtbuch-Tiere hingegen nicht abgegeben werden. Diese Regel ist zwar umstritten, soll aber sicherstellen, dass nicht irgendwann Exemplare ungeklärter genetischer Abstammung auftauchen oder die Tiere in tierschutzwidriger Haltung enden. Das erklärt, warum das Angebot eines Privathalters und zweier Nicht-EAZA-Zoos, Marius zu übernehmen, abgelehnt wurde. Die Kastration von Marius oder gleich die Verhütung (bei Giraffen übrigens ohnehin problematisch) seiner Entstehung kamen ebenfalls aus Tierschutzgründen nicht in Frage. Und vor allem: Was hätten denn dann die Löwen zu fressen bekommen?
Bleibt als letzter Aufreger die Tatsache, dass die Giraffe vor interessierten Zuschauern und, offenbar besonders furchtbar, sogar vor Kindern zerlegt und verfüttert wurde – laut Spiegel-Online sogar vor „verstörten Kindern, die angesichts des Gemetzels entsetzt das Gesicht verzogen“. Wer sich das zugehörige Video und die Bilder allerdings ansieht, findet keinen Hinweis auf Verstörung oder Entsetzen. Warum auch? Es handelte sich um eine angekündigte Veranstaltung, niemand wurde gegen seinen Willen zum Augenzeugen. Eines Geschehens zumal, dass, wie der Zoo richtig anmerkt, pädagogisch wertvoll und lehrreich ist. Für Fleisch sterben Tiere, wenn die Nahrungsmittelindustrie das auch gerne vergessen machen möchte.
Die Kenntnis und das unmittelbare Erlebnis dieser fundamentalen Tatsache führen nicht zur Verrohung, sondern zu einer bewussteren Würdigung der eigenen Nahrung, letztlich zu Respekt gegenüber dem Geschöpf, das sein Leben lassen musste, damit andere satt werden. Wäre mehr Menschen gegenwärtiger, wie das Schnitzel in die Pfanne und die Wurst in die Hülle kommt, wären der besinnungslose Fleischkonsum samt einhergehender Massentierhaltung wohl kaum möglich. Löwen allerdings haben damit nichts zu tun. Das Ende von Marius wäre selbst in einer besseren Welt ebenso sinnvoll wie richtig gewesen.