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Archiv-Artikel

Die Geburtsstunde des Fidelismus

Seit Carlos Valenciaga, der persönliche Referent von Fidel Castro, am Montag um 21.15 Uhr vor den Kameras des nationalen Fernsehens bekannt gab, dass der máximo líder aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend seine Funktionen als Erster Sekretär der Kommunistischen Partei, Oberkommandierender der Streitkräfte und Vorsitzender des Staatsrates an seinen Bruder Raúl Castro übertragen werde, spricht alle Welt darüber, ob es jetzt in Kuba zu Veränderungen kommen könnte. In Miami fingen einige bereits an, die Koffer zu packen. In der Zentrale der Macht dagegen, in Havanna, organisiert man eine andere Variante, die auf den Beginn einer neuen und langen Ära in der Geschichte des Landes hindeutet: den Fidelismus.

Während der kurzen Diktatur Fulgencio Batistas (März 1952 bis Dezember 1958) nannten sich die Anhänger des Tyrannen „Batistianos“ und die des Rebellenführers Castro „Fidelistas“. Nach dem Triumph der Revolution im Januar 1959 kam es in Mode, das Adjektiv „revolutionär“ zu benutzen, bis im April 1961 das sozialistische Wesen der Revolution ausgerufen wurde, was stärkere Attribute verlangte: „kommunistisch“ oder „marxistisch-leninistisch“.

Aber nicht alle Adjektive, die auf „-istisch“ enden, haben eine eindeutige Verbindung zu einem entsprechenden Substantiv, das auf „ismus“ endet. Denn „istisch“ braucht nur Anhängerschaft oder Sympathie, während ein „ismus“ in aller Regel ein System bedeutet, ein kohärent ausgearbeitetes Denkmuster. Deshalb ist es noch immer schwierig, klar zu definieren, was der Fidelismus als Ideologie oder politisches Programm war oder ist. Was wir in Kuba fast ein halbes Jahrhundert lang erlebt haben, war der Castrismus – aber das ist eine andere Sache.

Kurz vor seinem 80. Geburtstag und mit angeschlagener Gesundheit scheint für den Comandante en Jefe der Zeitpunkt gekommen, seine Erfahrungen in einer Doktrin zusammenzufassen, die ihn selbst überdauert und die offiziell als Fidelismus getauft werden könnte.

Quellen dafür werden zweifellos die Ideen von José Martí sein, der Marxismus-Leninismus, die gesammelte Erfahrung der kubanischen Revolution und ein paar Messerspitzen Guevarismus.

Die programmatische Substanz ist mit Sicherheit außenpolitisch bestimmt von Antiimperialismus, Internationalismus – und einer Kombination aus unbeugsamer Souveränität, verbunden mit der Sehnsucht nach Integration in einen lateinamerikanischen Block, plus dem Ehrgeiz, eine wiederbelebte Blockfreienbewegung anzuführen.

Innenpolitisch sind weiterhin Einheitspartei und ausgesprochene Intoleranz gegenüber jeglicher Opposition die unverbrüchlichen Säulen des Machterhalts.

Auch wirtschaftlich gibt es keine Überraschungen: Der Staat kontrolliert den internen und externen Markt. Privatinitiative ist auf ein Minimum reduziert. Das Humankapital als Hauptquelle der Staatseinnahmen wird bestmöglich ausgenutzt, und die sozialen Errungenschaften werden zentral verteilt. So sollen Gesundheit und Bildung für die ganze Bevölkerung und die Versorgung der Behinderten garantiert, der Lebensstandard allmählich gesteigert, gleichzeitig aber die Herausbildung einer Reichenschicht verhindert werden. All das wird zusammen mit einer nachhaltigen Verwertung der natürlichen Ressourcen und größtmöglicher Sparsamkeit bei der Ressourcennutzung versprochen.

Kulturell herrscht formal große Freiheit, aber konzentriert auf die ethischen Prinzipien zur unumkehrbaren Entwicklung eines neuen Menschen. Das Evangelium über allem klingt weiter militärisch: „Der Krieg des ganzen Volkes zur Verteidigung der Errungenschaften, koste es was es wolle.“

Ich denke, dass die Doktrin einige weitere Details enthalten wird, etwa über die Entwicklung der Wissenschaft, das Thema Religion und vermutlich sogar das heikle Geschlechterthema, aber die erwähnten Punkte sind die wichtigsten. Ob das alles reale Zielsetzungen sind oder nur eine Utopie, bleibt an dieser Stelle dahingestellt.

Natürlich ist der Fidelismus, der kommt, mehr oder weniger der gleiche, der er bisher war – nur dass er weniger durch bereits gescheiterte Gesellschaftstheorien kompromittiert werden wird. Ein weiterer Unterschied ist, dass es sich jetzt um eine Blaupause für die Zukunft handelt, von der sich die Erben Castros nicht entfernen können, wer auch immer sie sein mögen.

Dass es bisher noch keine offizielle Veröffentlichung der fidelistischen Doktrin gab, liegt vor allem daran, dass der Comandante keine festgezurrten Theorien mag, nicht einmal seine eigenen. Ein paradigmatisches Beispiel dafür war das Programm der Kommunistischen Partei Kubas vom Dezember 1986. Nach seiner Annahme ist nie wieder darauf Bezug genommen worden, nicht einmal, um es zu bestätigen, zu verwerfen oder durch ein anderes zu ersetzen.

Die Methode, nach der der máximo líder mit harter Hand die Macht ausgeübt hat, war stets von einer Mischung aus Pragmatismus und Improvisation geprägt. Aber genau dieses Privileg möchte der Chef seinen Nachfolgern nicht überlassen.

Auf die so oft gestellte Frage, was mit Kuba geschieht, wenn Fidel Castro einmal nicht mehr ist, haben die Sprecher des Regimes immer geantwortet, dass sein Bruder Raúl, der kürzlich 75 wurde, sich um alles kümmern werde. In seiner Erklärung ans kubanische Volk bestätigt Castro das, obwohl ER immer noch die Idee vertritt, dass es die Kommunistische Partei sein wird, die das revolutionäre Werk fortführt. Das passt zusammen mit der Beschneidung der Aufgaben des Generalsekretärs – er ist nur noch Exekutivorgan – und den anderen Umbauten innerhalb der Partei und der Regierung.

Oppositionelle haben unterschiedliche Ansichten, in welchen Zeiträumen es zu Veränderungen kommen wird, aber alle sind sich einig, dass die Dinge anders werden. Ob mit Blutvergießen oder mit einem Lächeln, ob unter dem Lärm der Schüsse oder dem Rhythmus von heißer Musik – alles wird sich ändern, glauben sie, und nur eine einzige mögliche Richtung nehmen, nämlich zu Demokratie und Marktwirtschaft, beeinflusst von der unvermeidlichen Annäherung an den mächtigen Nachbarn im Norden. Es gibt auch jene, die sich Illusionen von einem „brasilianischen Sozialismus“ hingeben oder dass die enge Verbindung zu Hugo Chávez’ Venezuela schließlich auf Kuba zurückwirken könnte.

Im Ausland sorgen sich einige, dass die Nachfolger sich eine heftige Schlacht der Ideen darum liefern, wer das Denken des Anführers am treuesten interpretiert. Doch in den rund 6.000 Stunden öffentlicher Reden (durchschnittlich 10 bis 11 Stunden pro Monat in 47 Jahren) des unermüdlichen Predigers der kubanischen Revolution werden auch die scharfsinnigsten Exegeten keinen Ariadnefaden finden, um das Labyrinth zu durchqueren, das die Zukunft für diese Land bereithält.

Man darf vermuten, dass ER vor seiner Krankheit Zeit gefunden hat, mit der Präzision eines Goldschmieds Anweisungen über alles aufzuschreiben, was zu tun ist. Ein so misstrauischer Mensch wie Fidel Castro kann sich nicht den Luxus erlauben, dass irgendein Emporkömmling plötzlich in den Text seines Testamentes eingreift. Die Partitur des Konzerts muss schon geschrieben sein. Anders gesagt: Die Zwangsjacke ist geschnitten und genäht, und die persönliche Erfahrung ihres Designers spricht dafür, dass es niemanden geben wird, der sich aus ihr befreien kann.

Eine bekannte Anekdote sagt, dass der frisch gebackene Comandante in den ersten Tagen des Kampfes in den Bergen, als ER nach der verpatzten Landung an der kubanischen Küste in seinen Reihen nur noch ganze 12 Mann und sieben Gewehre zählte, die historischen Worte sagte: „Jetzt werden wir wirklich den Krieg gewinnen.“ Dreißig Jahre später, zum Abschluss einer Parlamentssitzung, in der das Jahr 1987 als „29. Jahr der Revolution“ getauft worden war, hatte der damalige Vorsitzende des Staats- und Ministerrates die unglückliche Idee, eine Parallele zu ziehen und auszurufen: „Jetzt werden wir wirklich den Sozialismus aufbauen“.

Seitdem sind die Jahre der reduzierten Kindersterblichkeit und erhöhten politischen Repression, der allgemeinen Bildung und strikten Zensur, der verlängerten Lebenserwartung und ständig ansteigenden Auswanderung, der tausenden Blinden, denen das Augenlicht wiedergegeben und tausenden Oppositionellen, denen die Freiheit genommen wurde, ins Land gegangen. Vielleicht wäre es gar nicht so überraschend, wenn wir jetzt feststellten, dass all diese Jahre in Wirklichkeit ein langsamer Lernprozess waren – die schwierige Geburt, nach der wir sagen können: „Jetzt beginnt der Fidelismus.“

Das Paradoxe ist, dass nicht ER das sagen darf, falls ER noch etwas sagen kann. Denn den Personenkult toleriert ER bei den anderen, fördert ihn aber nie direkt, obwohl sein Name in der Präambel der Verfassung und dem vergessenen Parteiprogramm auftaucht und ER nie seine unendliche Macht benutzt hat, um die Erwähnungen zu streichen. Der Beginn des Fidelismus als Doktrin, der sogar eine Änderung des Parteinamens einschließen könnte, geht nur mit seinem endgültigen Rückzug als Staatschef – von Regierung und Partei. ER müsste zu Lebzeiten in Rente gehen und relativ still bis zum letzten Atemzug die treue Umsetzung seines Vermächtnisses kontrollieren. In anderen Worten: den Castrismus beenden, damit der Fidelismus beginnen kann.

Es muss niemand glauben, dass Fidel Castro so naiv ist, Dinge unerledigt zu lassen, wie man es bei einem plötzlichen, wenn auch erwarteten, Tod vermuten darf. Wenn sein Rückzug jetzt auch nur vorübergehend sein sollte, an seinen Bruder Raúl hat ER immerhin schon diese ganzen Ämter abgegeben, die eigentlich nur von Bedeutung sind, weil ER sie innehatte. Das zeigt, dass ER nicht so egoistisch ist, sie alle mit ins Grab zu nehmen.

Kann sein, dass all das doch nicht jetzt geschieht. Denn es ist immer möglich, dass ER wie Phönix aus der Asche wieder auf die Beine kommt und mit neuem Elan zurückkehrt. Letztendlich ist das hier keine Prophezeiung, sondern eine Vermutung. Einigen wird sie zu optimistisch erscheinen, anderen unentschuldbar pessimistisch. Aber alles deutet darauf hin: Wir erleben die Geburtsstunde des Fidelismus. Wir werden sehen, wie lange er dauert.

Aus dem Spanischen von Bernd Pickert