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Archiv-Artikel

Die Legende vom Wählerschwenk

Vom roten zum braunen Gürtel? Lisa Jandi untersucht, ob es wirklich stimmt, dass die französischen Arbeiter den Kommunisten weg- und der Front National zulaufen

Jean-Marie Le Pen vom Front National (FN) behauptet gerne, seine Partei sei die Partei der Arbeiter und der Arbeitslosen. Das ist auf jeden Fall nicht ganz falsch: Bei den Präsidentschaftswahlen 2002 waren 30 Prozent seiner Wähler Arbeiter und 27 Prozent Arbeitslose. Zumal in der konservativen Presse deutete man das als Verwandlung des „roten Gürtels“ rund um Paris in einen „braunen Gürtel“. Die Sozialwissenschaftlerin Lisa Jandi weist überzeugend nach, dass das eine Legende ist.

Als „roten Gürtel“ bezeichnet man das Département Seine-Saint-Denis, das Paris umgibt. Hier entstand in den Jahren zwischen 1924 und 1970 ein Gürtel von kommunistisch dominierten Städten und Gemeinden – insgesamt lebten in der Banlieue bereits 1931 über 8 Millionen Menschen, die fast 40 Prozent der französischen Erwerbstätigen ausmachten. Politisch war die Region geprägt von starken Gewerkschaften, zahlreichen Satellitenorganisationen der Kommunistischen Partei (PCF), von Musik- über Sport- bis zu Bildungsvereinen und einer bunten Arbeiterkultur.

Seit 1981 erodiert dieser „rote Gürtel“ kontinuierlich. Innerhalb von zwanzig Jahren verlor der PCF in 26 von ehemals 67 von ihm beherrschten Städten die Mehrheit. Das ist eine Folge der Selbstdiskreditierung der Partei durch ihre Regierungsbeteiligung (1981–83) mit einem unsoliden Programm, das viel versprach und nichts hielt. Die enttäuschten Aktivisten zogen sich aus der ausgedehnten politisch-kulturellen Zellenarbeit zurück – das traditionelle Milieu zerfiel, nicht zuletzt auch wegen der stalinistischen Verkrustung der Partei, die zu Reformen unfähig war. Natürlich trug auch die massive Entindustrialisierung das ihre zum Niedergang bei. Im Département Seine-Saint-Denis gingen 45 Prozent der Arbeitsplätze in der Industrie in einem Prozess verloren, den Emmanuel Todd „industrielle Konterrevolution“ nannte. Hinzu kamen die Abwanderung der qualifizierten Arbeiter und die starke Zuwanderung von Menschen aus Nordafrika. „Die Banlieue wurde zunehmend zum Sammelbecken der pauperisierten und prekarisierten Bevölkerungsschichten Frankreichs“ (Lisa Jandi).

Der FN entstand 1972 aus der Konkursmasse verschiedener rechter und konservativer Gruppierungen. Seine ersten Erfolge bei den Kommunalwahlen fallen zusammen mit der Entzauberung der Kommunisten in der gemeinsamen Regierung mit Mitterrands Sozialisten. Der FN hat seine Wählerbasis – wie der PCF – in den urbanen Zentren. Aber im Unterschied zu den Kommunisten kamen die Wähler des FN von Anfang an aus allen sozialen Schichten. Die schwache soziale Verankerung des FN, der nur etwa 75.000 Mitglieder hat, ist allerdings mit dem dichten Netz der kommunistischen Subkultur nicht vergleichbar.

Die Politik- bzw. Agitationsfelder „Einwanderung“ und „Unsicherheit“ hat Le Pen nicht erfunden, aber er beackert sie wirkungsvoller und demagogischer als die Konservativen. Wahlanalysen haben ergeben, dass von einem direkten Zusammenhang zwischen hohem Ausländeranteil, hoher Kriminalität und hohem Wähleranteil des FN keine Rede sein kann. Die meisten Wähler Le Pens wohnen in gehöriger Distanz zu den Orten mit hohem Ausländeranteil und hoher Kriminalitätsrate. Sie reagieren mit ihrem Votum nicht auf eine tatsächliche Bedrohung und eine als solche erlebte soziale Umwelt, sondern auf eine medial vermittelte Kunstwelt, in der schwarze Einwanderer und Kriminelle gleichermaßen als Bedrohung aufgebaut werden. Hinzu kommt bei den Mittelschichten die Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg.

Die Existenz von trostlosen, ghettoähnlichen Vorstädten mit einem Ausländeranteil bis zu 50 Prozent ist nicht zu bestreiten. Dort wählen die meisten gar nicht mehr. Und die Antwort auf Rassismus, Diskriminierung, Schulversagen, Arbeitslosigkeit und allgemeine Perspektivlosigkeit finden viele Jugendliche in einer Selbstethnisierung: Kulturell assimiliert, aber gesellschaftlich ausgegrenzt, definieren sie sich als Beurs oder bekennen sich zu einem islamistischen Fundamentalismus, der mit Religion nichts, mit radikaler Selbststilisierung sehr viel zu tun hat.

Die Wahlanalysen zum Département Seine-Saint-Denis bestätigen, dass die Verwandlung des „roten“ in einen „braunen Gürtel“ eine oberflächliche Projektion ist. In diesem Département wählten schon 1988 13,5 Prozent der Wähler die Kommunisten und 19,8 Prozent Le Pen. Der spektakuläre Vorsprung ist jedoch nicht darauf zurückzuführen, dass Kommunisten in nennenswerter Zahl direkt zu Le Pen gewechselt hätten. Der dramatische Einbruch des PCF von über 40 Prozent Wählern 1981 auf 3 Prozent 2002 ist auf die Wahlabstinenz und auf Verluste zugunsten von sozialistischen und linksradikalen Parteien zurückzuführen. Die Studie von Lisa Jandi zeigt überzeugend, dass die Wahlerfolge des FN nicht auf seiner starken Verankerung in der Banlieue beruhen. Le Pens Partei existiert praktisch nur in den Wahlkämpfen und im Fernsehen. RUDOLF WALTHER

Lisa Jandi: „Vom ‚roten Gürtel‘ zum ‚braunen Gürtel‘? Rechtsextremismus in den Pariser Vorstädten“. Edition tranvia, Berlin 2006, 151 Seiten, 19,80 Euro