„Überwiegend nicht korrekt“

HARTZ IV Zwei Sozialrichter über die Flut der Klagen, die Verantwortung der Politik, die Arbeit der Bagis und die Frage, was in Bremerhavens Ämtern besser läuft als in Bremens

■ ist Richter am Bremer Sozialgericht – und dessen stellvertretender Sprecher

INTERVIEW TERESA HAVLICEK
UND JAN ZIER

Wieder mal hat die Hartz-IV-Behörde Bagis vor dem Sozialgericht verloren. In Bremen, hat man den Eindruck, kommen solche Niederlagen häufig vor, ohne dass gleich Konsequenzen gezogen würden.

André Schlüter: Bei den Kosten der Unterkunft etwa würden wir uns wünschen, dass die Entscheidungen im Sinne der Hilfebedürftigen zügiger in Verwaltungsanweisungen eingearbeitet werden. Gerade positive Entscheidungen haben den Effekt, dass viele Menschen entsprechende Ansprüche geltend machen und wir immer wieder gleichartige Entscheidungen treffen müssen. Das wäre nicht nötig.

Legt die Bagis die Hartz-Gesetze besonders eng aus?

Schlüter: Sie legt sie oft anders aus, als das Sozialgericht. Das zeigt bereits die Erfolgsquote der Klagen – die ist bei den Hartz-IV-Verfahren höher als etwa im Renten-, Kranken- und Unfallversicherungsrecht. Die Mitarbeiter in den Behörden haben allerdings auch keinen einfachen Job: Sie gehen mit komplexem und relativ jungem Recht um. Zudem sind die Hilfebedürftigen häufig in schwierigen Lebenssituationen und die Beratungsgespräche bei der Behörde sind oft emotional aufgeladen.

Die Sozialgerichte erreicht eine Flut an Hartz-IV-Klagen...

Jörg Schnitzler: Beim Sozialgericht Bremen sind 2009 allein 2.456 dieser Verfahren eingegangen. Das führte zu 179 Prozent mehr Klagen und Eilverfahren als noch 2008. Für dieses Jahr rechnen wir mit einem weiteren Anstieg um etwa zehn Prozent.

Wird in Bremen mehr geklagt?

Schlüter: Möglicherweise wird ganz allgemein in Stadtstaaten das Gericht häufiger bemüht.

Warum?

Schlüter: Ich denke, der Stadtbürger ist ein Stück weit klagefreudiger. Und er findet in Städten eine andere Infrastruktur als auf dem Land. Viele Kläger lassen sich hier nicht anwaltlich vertreten, sondern suchen Rat bei einem Arbeitslosenverband oder einer anderen kostenlosen Rechtsberatungsstelle.

Gibt es zwischen Bremen und Bremerhaven Unterschiede?

Schlüter: Bremerhaven hat eine höhere Arbeitslosenquote als Bremen – es wäre logisch, wenn in der Relation mehr Verfahren aus Bremerhaven eingingen. Wir stellen aber fest, dass in der Stadt Bremen häufiger geklagt wird.

Schnitzler: Bei der Bremerhavener Hartz-IV-Behörde, dem Arge Job-Center, wird auf unsere Anfragen hin schneller gearbeitet. In den Gerichtsverhandlungen erleben wir, dass Hilfebedürftige aus Bremen häufiger unzufrieden sind. Ich plane bei Hartz-IV-Gerichtsverhandlungen in Bremen immer Zeit ein, in der die Menschen ihren Frust loswerden können. Viele beschweren sich darüber, wie ihnen gegenüber reagiert wird. Wir hören auch immer wieder, dass es schwierig ist, mit den zuständigen Ansprechpersonen überhaupt in Kontakt zu treten.

Die Bundesagentur für Arbeit sagt, dass sich 2009 1,4 Prozent der Hartz-IV-Bescheide nach Widersprüchen oder Klagen als fehlerhaft erwiesen haben.

Schnitzler: Die Zahl bezieht sich nur auf den Anteil der Bescheide, die korrigiert, weil angefochten wurden. Das sagt nichts darüber aus, wie viele Bescheide tatsächlich falsch waren.

Schlüter: Die Bescheide, die wir sehen, sind überwiegend nicht korrekt: Die Klagen haben in über der Hälfte der Fälle – zumindest in Teilen – Erfolg.

Haben Sie den Eindruck, dass Entscheidungen, die die Politik nicht fällen will, an die Gerichte übergeben werden?

Schnitzler: Ja, etwa bei den Kosten der Unterkunft.

■ ist Richter am Sozialgericht Bremen und zugleich dessen Pressesprecher

Schlüter: Um möglichst viele Sachverhalte erfassen zu können, sind die Gesetze im Allgemeinen bewusst weit formuliert. Die konkrete Auslegung überlässt man den Behörden und im Fall der Überprüfung den Gerichten. Im Bereich des Sozialgesetzbuchs II wird aber besonders viel Verantwortung abgewälzt.

Vor dem Sozialgericht streiten die Menschen um ihr Existenzminimum...

Schlüter: Dramatisch wird es immer dann, wenn die für Normalbürger vorgesehenen Leistungen aus besonderen, etwa gesundheitlichen Gründen nicht ausreichen. Dann müssen die Betroffenen sich diese „Mehrbedarfe“ vom Mund absparen.

Wann zum Beispiel?

Schlüter: Etwa dann, wenn jemand in besonderem Maße auf bestimmte Hygieneartikel angewiesen ist. Die Übernahme der Kosten war bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Februar nicht vorgesehen. Der Gesetzgeber hat da zwar inzwischen nachgebessert. Die Behörden legen das nach meinem Eindruck aber restriktiv aus – da könnten noch viele Konflikte auf die Sozialgerichte zukommen.

Wo sind die Hartz-Gesetze aus Ihrer Sicht reformbedürftig?

Schlüter: Im Sozialgesetzbuch II ist vieles mit heißer Nadel gestrickt worden. Dort ist etwa vorgesehen, dass eine Rechtsverordnung zur Angemessenheit von Kosten der Unterkunft und Heizung erlassen werden kann. Diese gibt es aber bis heute nicht.