: Wendung statt Wandlung
Bertolt Brechts Hinwendung zum Marxismus ging einher mit dem Studium chinesischer Klassiker: I Gings „Buch der Wandlungen“, Konfuzius’ Schriften, die Werke des klassischen Philosophen Mozi, eines Gegners von Konfuzius. Ein Versuch über Brechts China aus Anlass seines anstehenden 50. Todestags
von CHRISTIAN SEMLER
Ein Foto im Halbdunkel. Das Arbeitszimmer Brechts im amerikanischen Exil. Über dem Schreibtisch des Stückeschreibers hängt, kaum sichtbar, ein chinesisches Rollbild, das den Denker Konfuzius zeigt. Es ist ein offizielles Porträt aus der Qing-Zeit, der letzten der chinesischen Dynastien, und preist Konfuzius als Lehrmeister und Verkörperer großer Tugenden. Brecht führte es bis zu seinem Tod mit sich. Es stand ihm täglich vor Augen.
Warum Konfuzius? Warum ausgerechnet ein Denker des chinesischen Altertums, dessen Bejahung der herrschenden Unterdrückung und dessen rückwärts gewandten, starren Ritualen verpflichtete Philosophie stets die Kritik fortschrittlicher chinesischer Denker beflügelt hatte? Schließlich war es Mao Zedong, den Brecht als Revolutionär seit den 30er-Jahren hoch schätzte, selbst gewesen, der die Ideologie des Konfuzianismus als eines der großen Hindernisse für die Mobilisierung der chinesischen Volksmassen verurteilt hatte. Das wusste Brecht. Seine Liebe zu Rollbildern und Masken der chinesischen Tradition hatte nichts mit den Chinoiserien gemein, dem Lobpreis angeblich zeitloser chinesischer Weisheit, einer Modeerscheinung unter Intellektuellen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Brecht hatte sich mit seiner Wendung zum Marxismus zugleich dem Studium der chinesischen Klassiker zugewandt, die ihm durch die Übersetzungen deutscher Sinologen aus den 20er-Jahren vorlagen. So lernte er nicht nur I Ging, das „Buch der Wandlungen“, kennen, nicht nur Laozi, nicht nur die Schriften des Konfuzius und seiner Schüler, sondern auch die Werke seiner Gegner, voran die des klassischen Philosophen Mozi, der unter dem Namen Me-ti zum großen Mentor in Brechts „Buch der Wendungen“ wurde. Wendung statt Wandlung. Der Denkende wendet sich, er wendet sich der Realität zu, der sich wendenden sozialen Realität der Klassenkämpfe. Und er wendet sich taktisch geschickt, um den Schlägen des Feindes auszuweichen.
Brecht sieht im Rollbild des Konfuzius über seinem Schreibtisch beides – den Reaktionär und den Lehrer. Über den Reaktionär wollte er ein Theaterstück schreiben, das leider über eine Szene nicht hinausgekommen ist. Der Lehrer war ihm in zweifacher Hinsicht wichtig. Konfuzius trat, freilich in einer abstrakten Manier, für Wohlwollen und Menschlichkeit ein. Dafür hat Brecht einen Begriff zur Hand, den der Freundlichkeit. Er ist ein Zentralbegriff für den Dichter. Freundlichkeit ist eine Haltung, sie ist lernbar. Wo Freundlichkeit nicht geübt werden kann, wegen der Härte der Klassenauseinandersetzungen, leben wir in finsteren Zeiten. Freundlichkeit ist zuverlässiger als Liebe. Gegenüber der Liebe, besonders in ihrer überschwänglichen Form, ist nach Brecht Misstrauen angebracht. Wie alles unterliegt auch die Liebe im Kapitalismus den Warenbeziehungen. Nicht umsonst hieß Brechts Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ in seiner noch nicht „sinisierten“ Urfassung „Die Ware Liebe“. Eine Portion Selbstliebe ist nach Brecht in Ordnung. Denn sie ist die Voraussetzung dafür, sich überhaupt dem Nächsten zuzuwenden. Aber Liebe – sie muss produktiv sein, das heißt, sie muss sich der Selbstveränderung wie der Veränderung des geliebten Menschen widmen.
Noch ein zweiter Gedanke, der auf Konfuzius zurückgeht, aber auch von seinen Gegnern im chinesischen Altertum übernommen wird, ist der der Richtigstellung der Begriffe. Begriffe sollen sich der Wirklichkeit nähern, man muss darum kämpfen, dass ideologische Begriffe entschleiert werden. Jede Ideologiekritik ist auch Sprachkritik. Konfuzius berichtigte, indem er Mord Mord und nicht Tötung nannte. Sein Gegner Mozi sprach bei seiner Ablehnung der Angriffskriege davon, dass „wenn die Tötung eines Menschen eine Ungerechtigkeit darstellt, die Tötung von zehn Menschen eine zehnfache Ungerechtigkeit ist“. Für Brecht ist bei der Verwendung von Begriffen große Vorsicht angebracht. Zum Beispiel bei dem des Volkes. Es kommt auf den genauen Kontext der Verwendung an, denn allzu leicht wird mit Volk ein angeblich organischer, nicht hinterfragbarer Zusammenhang gemeint. Dann lieber Bevölkerung. Das Volk, so Brecht, ist nicht „tümlich“. Wenn aber berechtigterweise vom Volk gesprochen werden darf, dann auf der Basis seiner konkreten Bedürfnisse und Wünsche. „Weisheit des Volkes“ meint nach Brecht ein aus der Lebenserfahrung der Unterdrückung gewonnenes Urteilen. Das allerdings ist eine Auffassung, die Konfuzius diametral entgegengesetzt ist.
Ein zweites chinesisches Rollbild hat Brechts Fantasie nachhaltig angeregt. Es zeigt den Philosophen Laozi, der, angewidert von den Menschen, auf dem Weg in die Einöde den chinesischen Grenzposten passiert. Der Legende nach machte er dort Station, um sein Werk „Dao Dejing“ abzufassen. In einem kühnen Perspektivwechsel stellt Brecht in seinem Gedicht „Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking“ den Zöllner in den Vordergrund, der dem Weisen Unterkunft bot und ihm die Weisheit abverlangte, die ohne seine Beharrlichkeit verloren gegangen wäre. Ganz anders verfuhr Guo Moruo, der Gelehrte und Freund Maos, in einer zeitgenössischen Erzählung. Er ließ Laozi mit einem Ochsenschwanz aus der Einöde zurückkehren. Der Weise habe aus Not das Tier schlachten und sein Blut trinken müssen. Besser wäre es, so sagte er dem Grenzposten, sein Werk zu verbrennen. In diesen Haltungen zur klassischen chinesischen Philosophie zeigt sich der Unterschied zwischen einem produktiven Denken, das auf Nutzen und nützliche Handlungen abstellt, und einer auf der abstrakten Konfrontation beharrenden Denkungsart.
In seinem Gedicht lässt Brecht den Jungen, der Laozi auf seinem Weg begleitet, die Lehre des Meisters folgendermaßen zusammenfassen: „Daß das weiche Wasser in Bewegung / mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt / Du verstehst, das harte unterliegt.“ Eine fast wörtliche Übernahme aus dem „Dao Dejing“, aber den Brecht’schen Bedürfnissen angepasst. Das „Harte“ ist das Unbewegliche, unfähig, die sich ändernde Realität wahrzunehmen und sich darauf einzustellen. Deswegen kann „das Harte“ den Gang der Geschichte nicht beeinflussen.
In Brechts Gedicht ist vom Wasser in Bewegung die Rede. Die Verhältnisse in Natur und Gesellschaft dürfen nach Brecht nicht statisch begriffen werden, wie auch „der Denkende“ sich nicht kontemplativ den Dingen zuwenden darf, sondern als „Eingreifender“. Brecht, der sich gerade angesichts der Erstarrung des Marxismus-Leninismus um dessen Verflüssigung bemüht, findet bei den chinesischen Klassikern Material für seine „Große Methode“, das Denken in Widersprüchen. Hier lernt er von dem Philosophen Mozi, seinem Me-ti. Im „Me-ti“, dem „Buch der Wendungen“, sind nur wenige direkte Bezüge auf Mozi zu finden. Wohl aber werden bei Mozi Widersprüche im Denken mit den Widersprüchen gesellschaftlicher Realität in Zusammenhang gebracht. Nach Mozi muss sich das Denken auf verändernde Praxis orientieren. Er sagt: „Wenn man von dem, was sich nicht ausführen lässt, immer wieder redet, ist das bloßes Geschwätz.“ Und er kämpft gegen Schicksalsergebenheit – „einem Menschen zu sagen, dass er lernen und zugleich am Schicksal festhalten müsse, ist, wie wenn man ihn aufforderte, sein Haar zusammenzuhalten, aber seine Mütze abzusetzen“.
Die „Große Methode“, die Brecht im „Me-ti“ entwickelt, indoktriniert nicht, sondern „sie lehrt, Fragen zu stellen, die das Handeln ermöglichen“. Sie ist „eine praktische Lehre, von der Bewerkstelligung der Veränderung und der Veränderung der Bewerksteller, der Trennung und Entstehung von Einheiten, der Unselbständigkeit der Gegensätze ohne einander, der Vereinbarkeit einander ausschließender Gegensätze. Die Große Methode ermöglicht, in den Dingen Prozesse zu erkennen und sie zu benutzen.“
Als Brecht dies seinen Me-ti sagen lässt, sind die Schriften Maos „Über die Praxis“ und „Über den Widerspruch“ noch nicht übersetzt. Die zum Teil wörtlich übereinstimmenden Gedanken zur revolutionären Dialektik bei Mao und Brecht sind allerdings so schlagend, dass Brecht „Über den Widerspruch“ 1952 zum Buch des Jahres erklärte und den Mitgliedern seines „Berliner Ensembles“ Maos Essay nachdrücklich anempfahl. Wie Brecht auch der Meinung war, China werde, aus den Fehlern der Stalin’schen Sowjetunion lernend, einen Staat aufbauen, „in dem das Volk sich selbst verwaltet“. Und wo die „Widersprüche im Volk“ mit Geduld und Freundlichkeit gelöst werden. Wie wir wissen, hat die Geschichte einen anderen Weg eingeschlagen. Auf „Lasst hundert Blumen blüh’n, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern“ von 1957 folgte die Antirechtskampagne mit ihren zahllosen Opfern gerade unter den patriotisch und demokratisch gesinnten Intellektuellen. Gewiss war Brecht kein großer Freund der „Tuis“ gewesen, Brechts Kurzform eines Akronyms, das für die Intellektuellen stand, scheinbare Vertreter des Gemeinwohls, die in Wirklichkeit nur ihr eigenes Süppchen kochten. Aber auch den chinesischen Tuis gegenüber wäre seine Haltung dialektisch gewesen – nicht einseitig verurteilend und verfolgend.
Hat die Große Methode Brecht dazu verholfen, der Entwicklung des „realen Sozialismus“ ins Auge zu sehen? Keineswegs. Im Bezug auf die Stalin’sche Sowjetunion sah er nur gravierende Fehler. Dass der Sozialismus in eine neue, totalitäre Herrschaft umschlagen könnte –diese Möglichkeit stand Brecht, dem Dialektiker, vor Augen, aber er schreckte vor ihr zurück. Könnte es sein, dass seine Beschäftigung mit den chinesischen Denkern der fernen Vergangenheit den Versuch darstellt, die Bewegung der Gesellschaft in Widersprüchen auch für Gesellschaftsformationen der Zukunft zu prognostizieren? Dann wären Werke wie „Das Buch der Wendungen“ auch für uns eine nützliche Lektüre.