: Das Schwarze-Peter-Spiel
Die große Koalition wollte den Sozialstaat wieder auf ein solides Fundament stellen. Doch bislang hat es nur neue Verschiebemanöver zulasten der Beitragszahler gegeben
Wer kommt in Deutschland für die sozialen Sicherungssysteme auf – also für die Rente, die Krankenversicherung, die Arbeitslosenversicherung und die Unfallversicherung? Wer wird als Beitragszahler und als Steuerzahler in die Pflicht genommen? Mit der Antwort auf diese Frage haben Millionen Arbeitnehmer, Rentner und Arbeitslose hierzulande bittere Erfahrungen machen müssen: Denn von der Politik wurde ihnen der schwarze Peter zugeschoben.
Den steigenden Beiträgen zur Sozialversicherung standen in den letzten Jahren Kürzungen von Leistungen sowie höhere Zuzahlungen bei der gesetzlichen Krankenversicherung gegenüber. Statt über höhere Steuern wurde die deutsche Einheit zum großen Teil durch höhere Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu den Sozialkassen finanziert. Doch nicht nur die Politik, auch Arbeitgeber und Gewerkschaften haben mitgespielt, wenn es um die zusätzliche Belastung der Sozialkassen im Zuge der Frühverrentung und der Verjüngung von Belegschaften ging.
Aber war nicht die große Koalition mit dem Ziel angetreten, die Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen und die Finanzierung des Sozialstaats wieder auf solide Fundamente zu stellen? Wollte man nicht die Lohnnebenkosten – also die „Sozialversicherungsbeiträge“ – reduzieren, um die Beschäftigung zu verbessern? Dazu wäre es jedoch notwendig, den drastischen Rückgang sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu stoppen, den man per Gesetz zugelassen hat: Dies gilt vor allem für den ungesunden Boom bei den Mini-Jobs wie auch den Ich-AGs und den 1-Euro-Jobs. Auch die Sozialparteien müssen in die Pflicht genommen werden, älteren Arbeitnehmern faire Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu geben.
Stattdessen hat es bislang jedoch nur zahlreiche neue Verschiebemanöver zulasten der Beitragszahler gegeben. Was haben wir als Bürger nicht alles zu erwarten: eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozent, der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung um 0,4 Prozent und der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung um 0,5 Prozent – das macht summa summarum bereits rund 32 Milliarden Euro, die dem Bundesbürger ab 2007 zusätzlich aufgebürdet werden. Dies ist umso ärgerlicher, als mit der vorgesehenen Erhöhung der Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung das Ausmaß der erst von Rot-Grün beschlossenen Steuerzuschüsse wieder kassiert wird. Die Beiträge zur sozialen Sicherung werden also erneut dazu herangezogen, um Löcher im Bundeshaushalt zu stopfen.
Eine solche finanzielle Bürde kann die Verringerung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, die ebenfalls beschlossen wurde, nicht ausgleichen. Gerade Familien und Menschen, die den unteren und mittleren Einkommensschichten angehören, werden von der Erhöhung der Mehrwertsteuer besonders hart getroffen.
Noch schlimmer trifft es die Rentner: Sie müssen die Erhöhung der Mehrwertsteuer voll tragen, ohne durch die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entlastet zu werden. Die jetzt beschlossene Erhöhung des Renteneintrittsalters bedeutet für viele Menschen noch höhere Rentenabschläge.
Wenn die große Koalition vor diesem Hintergrund also jetzt den Gesundheitsfonds als großes Reformwerk präsentiert, schafft dies noch mehr Unsicherheit. Die Erwartungen waren hoch, aber das Ergebnis ist enttäuschend. Die Reformer der großen Koalition propagieren die Umfinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung aus Beiträgen in Steuern, einige Koalitionäre redeten schon von zweistelligen Milliardenbeträgen. Die Politik wäre gut beraten, vor weiteren solchen Entscheidungen die Lehren aus den verheerenden Erfahrungen mit der Einführung von ALG II bei der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Rahmen von Hartz IV zu ziehen.
Für die Menschen in Deutschland wäre es erheblich wichtiger, wenn die Große Koalition den Mut aufbrächte, der Gesundheits- und privaten Versicherungslobby endlich die Stirn zu bieten. Eine nachhaltige Gesundheitsreform für die Bürger und eine gerechtere Verteilung von Risiken und Lasten kann es nur geben, wenn die „Zweiklassenmedizin“ aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung nach Einkommenshöhe ein Ende findet.
Eine Verbesserung beim Preis-Leistungs-Verhältnis in der Gesundheitsversorgung, von der immer wieder die Rede ist, kann es nur geben, wenn die durchsichtigen Manöver der Kassenärztlichen Vereinigungen durchschaut werden und den gesetzlichen Krankenkassen die Möglichkeit gegeben wird, mit den Ärzten zu verhandeln.
Dringend nötig für eine Gesundheitsreform, die diesen Namen verdient, sind wirksame Maßnahmen gegen den ungebrochenen Ausgabenfluss bei den Arzneimitteln. Die diversen Gesundheitsreformen unter wechselnden Regierungskoalitionen haben in der Vergangenheit vor allem eines gezeigt: Das gesetzliche Gesundheitswesen bleibt finanziell so lange ein Fass ohne Boden, wie Reformen in erster Linie nur höhere Belastungen der Versicherten und Patienten mit sich bringen, aber nicht auch bei den Krankenkassen für mehr Wettbewerb um die Qualität der Gesundheitsleistungen zu vertretbaren Kosten sorgen.
Wenn es nun positive Nachrichten zur finanzielle Lage bei der Bundesagentur für Arbeit und der Rentenversicherung gibt, ist das erfreulich. Die Begehrlichkeiten der Politik müssen dabei jedoch in Zaum gehalten werden. Denn bei den Überschüssen, die jetzt zu verzeichnen sind, handelt es sich vor allem um einen Effekt der vorgezogenen Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung. Doch dieser Effekt wird einmalig bleiben. Im Jahr 2006 fließen in alle Sozialkassen Beiträge für 13 Monate; diese Sondereinnahmen schmelzen aber schon 2007 wie Schnee in der Sonne. Der finanzielle Spielraum bei der Bundesagentur sollten in erster Linie dazu genutzt werden, um die erheblich gekürzten Arbeitsmarktmaßnahmen zu stärken. Es wäre ein Fehler, nun voreilig die Beitragssätze zu senken oder damit weitere Löcher im Bundeshaushalt zu stopfen.
Mit der „Operation Aussteuerungsbetrag“ haben die Verschiebemanöver in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ohnehin bislang ihren Höhepunkt erreicht. Gemeint ist damit die Verpflichtung der Bundesagentur für Arbeit, für jeden nach zwölf Monaten noch nicht vermittelten Arbeitslosen einen „Aussteuerungsbetrag“ von 10.000 Euro an den Bund leisten zu müssen; diese Regelung stammt noch aus rot-grünen Zeiten.
Statt diese Strafsteuer aber noch weiter zu erhöhen, wie es die Regierung nun offenbar plant, sollte dieser Aussteuerungsbetrag besser stufenweise verschwinden. Wenn schon die große Koalition mit ihrer bequemen Zweidrittelmehrheit nicht die politische Kraft findet, auf solche Schwarze-Peter-Spiele bei der Finanzierung der sozialen Sicherung zulasten der großen Mehrheit der Menschen in diesem Lande zu verzichten – wer dann? URSULA ENGELEN-KEFER