DIE UHR IST WEG, DIE ZEIT STEHT STILL, DA HILFT NUR EINE JEANS VON MELTIN POT
: Eine super Berlinale mit „Top Girl“, „Quick Change“ und Akkordeon

Draußen im Kino

VON DETLEF KUHLBRODT

Irgendwann war meine Armbanduhr kaputt. Vielleicht war die Batterie auch nur alle. Jedenfalls zeigte sie nur selten die richtige Zeit an. Und dann war die Uhr, die ich über zehn Jahr getragen hatte, plötzlich weg.

Es fühlte sich komisch an, ohne Uhr durch die Berlinale zu laufen, an meinem rechten Handgelenk war ein Armband in den Farben Mexikos, dass mir eine mexikanische Freundin vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Das linke Handgelenk war zwei Tage nun leer. Auf der Suche nach der einen, fand ich eine andere Uhr; irgendwo in einer Schublade. Meine goldene Konfirmationsuhr. Sie ging zwar auch nicht, aber brachte mich doch wieder in’s Gleichgewicht.

Aber eigentlich war alles super. Nicht mehr automatisch alle paar Minuten, die Zeit abzufragen. Oder immer eine falsche Zeit zu sehen. Ohne Uhr kamen mir die Filme zunächst zu lang vor, aber dann war alles richtig.

Und zur goldenen Uhr trug ich eine Jeans von Meltin Pot, die ich vor sieben Jahren gekauft, oft geflickt und schließlich aussortiert hatte. Das Modell passt wie keine andere zu meinem Körper. Leider wurde die Produktion dieser Hose irgendwann eingestellt. Ich freute mich sehr, dass die Hose noch tragbar war und sah super aus.

Überhaupt stand diesjährige Berlinale unter einem guten Stern. Die Zuschauer waren super; es gab teils Filmgespräche, die so lang waren, wie die Filme, um die sie sich drehten, die Gäste waren super, die Schauspieler und Regisseure, die Mitarbeiter und Kollegen waren prima. Überall waren Glückszahlen: das 44te Forum, die 64te (also 8 mal 8) Berlinale ...

Eigentlich gab es nur einen Film, der mir nicht gefiel, Tatjana Turanskijs „Top Girl“, der so ausgedacht (wie ich fand) von Prostitution und Prekarität handelt. Doch der Film beschäftigte mich eine Weile. Der zunächst so einleuchtend klingende Satz der Regisseurin zum Beispiel - „Interessanter wäre ohnehin eine Debatte über Körperlichkeit und Intimität im fortgeschrittenen Kapitalismus“ – kam mir ganz falsch vor - die Gesellschaft ist doch kein Uniseminar. Dennoch war es interessanter mit einer geschätzten Kollegin, die „Top-Girl“ gut fand, über den Film zu sprechen, als mit Leuten, die meiner Meinung waren. Vielleicht freute ich mich auch, dass D. den Film verteidigte, weil ich die anderen Arbeiten von Tatjana Turanskij gut finde.

Zwischen den Filmen ging ich oft Eis essen. Das Eis in den Arkaden schmeckt lecker, hat Vitamine, ist nahrhaft, schmeckt besser als Wurst und ich freute mich sehr als der Mann hinter dem Tresen mir mein Eis mit einem „Bitte, Chef“ überreichte.

In der Arsenal-Schlange hört man die Gespräche der anderen Schlangensteher wortwörtlich, kristallklar, wie in Dolby-Stereo auf Kopfhörer. Die Schlange im Cinemaxx ist irgendwie kuschlig und in der Cinestar-Schlange fühlt man sich gleich wie zu Hause.

Der philippinische Film „Quick Change“ von Eduardo Roy, jr. zum Beispiel, der von einer Ladyboy erzählt, die mit Spritzen durch Manila rennt, um anderen Ladyboys Implantationsflüssigkeiten in Po, Brust und Wangen zu spritzen. Sie lebt mit ihrem kleinen Neffen und einem Mann zusammen. Alles ist genau wie mit harten Drogen. Die auf dem Schwarzmarkt erworbenen Flüssigkeiten sind teils giftig; es kommt zu Todesfällen. Die traurigste Szene eigentlich, als sie nach dem Ficken onaniert und ihr Mann wütend sagt, dass er das nicht noch einmal sehen möchte. Eher zufällig, weil ich das Kino verwechselt hatte, war ich in „Vulva 3.0“ von Ulrike Zimmermann und Claudia Richarz gelandet. Ein schöner Aufklärungsfilm u.a. über Designermösen. Etwas irritierend auf der großen Leinwand. Davor sahen sie meist viel schöner aus, als danach.

Auch weil viele Fachbesucher schon ab Donnerstag wieder weg fuhren, fühlte ich mich ganz wehmütig.

Die Wehmut steigerte sich, als der londoner Pianist Stephen Horne das Berlinale-Thema zum Berlinale Trailer auf dem Klavier spielte; so superschön! Wie auch der japanische Stummfilmklassiker „Light of Compassion“ von Henry Kotani, der dann in der Reihe „Aethetics of Shadow“ gezeigt wurde.

Stephen Horne spielte manchmal zugleich Klavier und Akkordeon bzw. Blockflöte dazu. Und beim Wettbewerbsfilm „The Little House“ des 83jährigen japanische Altmeisters Yoji Yamada musste ich plötzlich heulen, obwohl ich die Filmmusik vor allem eigentlich ziemlich kitschig fand. Ich kannte die Musik von einem Film über Ché Guevara, den wir vor 20 Jahren im Revolutionsmuseum in Havanna gekauft hatten.