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Archiv-Artikel

Im Viertel und in der Klasse gefangen

ARGENTINISCHE ROMANE Barrios Privados und proletarische Existenzen: Claudia Piñeiros „Die Donnerstagswitwen“ sowie Sergio Bizzios „Stille Wut“

Im Verlauf der Erzählung entsteht bei Claudia Piñeiro das komplexe Porträt einer dekadenten Mikrogesellschaft, die von Abstiegsängsten paralysiert ist

VON EVA-CHRISTINA MEIER

Niemand in Argentinien schreibt heute wie Borges oder Cortázar trotz der Omnipräsenz beider Autoren und ihrer Werke, behauptet die Schriftstellerin Claudia Piñeiro in einem kürzlich veröffentlichten Interview. Aber wie sollte es auch anders sein? Nicht nur die argentinische Literatur, sondern auch die argentinische Gesellschaft hat sich seit der Ära Borges (1899–1986) grundlegend verändert – besonders einschneidend nach dem Ende der Diktatur 1983 und kontinuierlich durch die ihr folgenden Boom- und Krisenphasen.

In ihrem soeben auf Deutsch erschienenen Roman „Die Donnerstagswitwen“ widmet sich Claudia Piñeiro einem bezeichnenden Phänomen dieses gesellschaftlichen Wandels, den „Barrios Privados“ – eingezäunten Wohnanlagen mit privatem Sicherheitspersonal, eigenen Schulen, Golfplätzen und Tennisanlagen mitten im ärmlichen Umland von Buenos Aires. Mit den aufkommenden Kriminalitäts- und Sicherheitsdiskursen Anfang der neunziger Jahre wurde der Rückzug in diese „Gated Communities“ nach US-amerikanischem Vorbild besonders für Familien des argentinischen Mittelstands zunehmend attraktiv.

In „Die Donnerstagswitwen“ rekonstruiert Piñeiro rückblickend und aus den wechselnden Perspektiven seiner Bewohner Stück für Stück die Ursachen für den plötzlichen Tod von drei gestandenen Familienvätern in einem Swimmingpool der Siedlung Alto de la Cascada Country. Doch obwohl die Autorin sich dabei gewisser Charakteristika eines Krimis bedient, steht nicht die Aufklärung eines Verbrechens im Mittelpunkt, sondern der mühsame Blick hinter die sorgfältig errichteten Fassaden seiner Protagonisten. Die Bewohner von La Cascada leben privilegiert in einem exklusiven Umfeld jenseits der als bedrohlich wahrgenommenen Realität der Hauptstadt. In Zeiten der Kompatibilität, dem traumhaften 1:1 Verhältnis von Peso zu US-Dollar haben sie es zu erheblichem Wohlstand gebracht. Nun aber, Ende der neunziger Jahre, macht die sich anbahnende schwere Wirtschaftskrise auch vor ihnen und ihren Lebensentwürfen nicht halt. Die Luftblase, in der sie sehr gerne leben, droht zu platzen.

Die ständig wechselnden Perspektiven und einzelnen Episoden ergeben einen vielfältigen Blick auf den Alltag der Siedlung, das Leben seiner Familien und ihrer Beziehungsgeflechte. Zuweilen bekommt der Roman durch dieses stilistische Vorgehen die Dynamik einer US-amerikanischen Fernsehserie. Trotzdem entsteht im Verlauf der Erzählung daraus das komplexe Porträt einer dekadenten Mikrogesellschaft, die sich nach außen abgeschottet hat und nun von Abstiegsängsten paralysiert ist.

Auch „Stille Wut“, der Roman von Sergio Bizzio, entwickelt seine Handlung in einem räumlich geschlossenen System, den labyrinthartigen Gängen und Zimmern einer großbürgerlichen Villa in Buenos Aires.

Im Supermarkt in der Nähe seiner Baustelle lernt der Gelegenheitsarbeiter (José-)Maria das wesentlich jüngere Dienstmädchen Rosa kennen. Doch Zweisamkeit ist für sie nicht einfach herzustellen. Schon die bloße Anwesenheit Marias in dem wohlhabenden Viertel erregt den Argwohn von Pförtnern und Sicherheitspersonal.

Stattdessen ist Maria daran gewöhnt, täglich mehrere Stunden zur Arbeit in die Stadt und wieder zurück in die Peripherie zu pendeln. Als dann Rosas Herrschaften für einige Zeit verreisen, bleibt er trotz strikten Verbots über Nacht bei ihr in der Villa. Beide werden von der unangekündigten Rückkehr der Hausbesitzer überrascht. Ohne Rosas Wissen versteckt sich Maria kurzentschlossen in einem der vielen unbewohnten Zimmer, um sich dort dauerhaft, aber für die Bewohner des Hauses unbemerkt einzurichten.

Bizzio, der sowohl Romane als auch zahlreiche Drehbücher verfasst hat und ebenfalls als Filmemacher und Theaterdramaturg arbeitet, gelingt es in „Stille Wut“ mit wenigen, knappen Beschreibungen lebendige Szenen und überzeugende Charaktere in einer äußerst beklemmenden räumlichen Anordnung zu schaffen.

Maria, die zentrale Figur der Erzählung, hat im Leben gelernt auf Gewalt mit Gewalt zu reagieren. Den cholerischen Vorarbeiter, der ihn auf der Baustelle drangsaliert und schließlich rauswirft, wird er erschlagen. Maria taucht in der Villa unter und beginnt schon bald sein geisterhaftes Leben dort zu schätzen. Seine alte Existenz vermisst er jedenfalls nicht. Er liest, trainiert seinen Körper, organisiert sein Essen. Unbeobachtet folgt er Rosa und den übrigen Bewohnern im Haus: Herrn und Frau Blinder, ihrer aus dem Ausland angereisten Tochter mit Familie, Álvaro, dem stets betrunkenen Sohn, der zunehmend Rosa sexuell bedrängt.

Während Rosa stoisch erträgt – Marias spurloses „Verschwinden“, die Anweisungen der Hausherrin, die Zudringlichkeiten Álvaros, die ungewollte Schwangerschaft durch den Nachbarn –, greift Maria ein in das, was vor seinen Augen geschieht – unsichtbar, zornig und ausweglos.

Den hier vorgestellten Romanen gelingt es sehr überzeugend, dem Phänomen gesellschaftlicher Undurchlässigkeit einen eigenen literarischen Ausdruck zu verleihen. Vielleicht auch durch die Erfahrung der letzten schweren ökonomischen Krise erhalten gesellschaftliche Diskussionen in Argentinien eine erstaunliche Präsenz und werden mit Leidenschaft geführt. Mehr denn je scheint argentinische Literatur sich als Teil dieser Kultur zu begreifen. Neuerscheinungen wie von Claudia Piñeiro und Sergio Bizzio beweisen es.

Claudia Piñeiro: „Die Donnerstagswitwen“. Unionsverlag, Zürich 2010, 320 Seiten, 19,90 Euro

Sergio Bizzio: „Stille Wut“. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010, 240 Seiten, 19,99 Euro