„Die Leute waren neugierig“

THEATER Die Bremer Shakespeare Company liest Originaldokumente aus dem Ersten Weltkrieg

■ 56, Schauspieler und Regisseur, ist seit 1989 im Ensemble der Bremer Shakespeare Company.

taz: Was leistet eine szenische Lesung über den Ersten Weltkrieg, was Archive und Geschichtsunterricht nicht können, Herr Lüchinger?

Peter Lüchinger: Wir zeigen die Not der Bremer an der Heimatfront. Der Krieg hat nicht nur im Ausland, sondern auch in Bremen stattgefunden und die Stadt verändert. Das Gerüst der Lesung ist der Briefwechsel des Soldaten Pöhland mit seiner Frau Anna in Bremen. Dabei bekommen unsere Gäste sehr intime, nahegehende Eindrücke. Des weiteren nutzen wir offizielle Polizeidokumente, die sich über Schaulustige am Gefangenenlager beschweren. Die Leute waren einfach neugierig auf die Fremden, die Kriegsgefangenen. Das war wie Fernsehen für uns.

Drängen sich aktuelle Konflikte nicht viel vehementer auf als der Erste Weltkrieg?

Ich finde einen historischen Bezug zur Heimat wichtig. Man muss ja auch bedenken, dass die hungernden Jugendlichen des Ersten Weltkriegs die Soldaten des Zweiten Weltkriegs waren. So weit weg ist das nicht. Das Verrückte ist, wie viele Parallelen es zwischen diesen Dokumenten und der heutigen Gesellschaft gibt. Zum Beispiel wurde zwei Tage nach Kriegsbeginn die Brieftaube verboten. Das erste, was heute verboten würde, wäre wahrscheinlich das Handy. Es gab auch Stimmen, die die deutsche Sprache von allem Ausländischen bereinigen wollten. Das ist durchaus vergleichbar.

Sie arbeiten sonst mit fiktionalen Texten. Hier nicht. Gehen sie damit anders um?

Ich denke, dass Shakespeare in der Verdichtung der Sprache weiterkommt als authentisches Material. Aber mit dieser Arbeit können wir Vergessenes wieder nach oben bringen. Über eine Zeitungsaufruf haben wir von einer Apothekerfamilie das handgeschriebene Tagebuch der Großmutter bekommen. Das liest sich „gruselig“ nationalistisch, aber auf diese Weise bleibt die Vergangenheit präsent. Solche Dokumente sind sehr wertvoll für uns. Ich habe hierbei mehr über Bremen gelernt als je zuvor. Bei dieser Arbeit bin ich eher Bremer Bürger als Schauspieler.  INT.: Kornelius Friz

Theater am Leibnizplatz, 19.30 Uhr