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Archiv-Artikel

Am Morgen der Tau

Post aus Nahost (12): Auch im Urlaub wird Ron Kehrman von Erinnerungen an seine tote Tochter eingeholt

Um herauszufinden, was zu Hause und speziell in Haifa passiert ist, checkte ich auch gestern Abend vor dem Schlafengehen wieder das Internet. Ich habe eine Website entdeckt, die sich auf News aus Haifa beschränkt. Ich war froh zu sehen, dass es nur wenige Neuigkeiten gab; manche davon beschäftigten sich nicht einmal mit dem Krieg.

Heute Morgen bin ich sehr früh aufgewacht, das erste Mal in diesen Ferien. Es war dieselbe Zeit, zu der ich zu Hause aufstehe, wegen der Zeitverschiebung sogar eine Stunde früher. Ich schaute aus dem Fenster. Die Sonne schien auf endlose Felder. Die Farben dieses Morgens waren so frisch und lebendig, noch hingen die Wolken über den Niederungen, und der Tau zauberte ein Glänzen auf alle Dinge.

All das erinnerte mich an meine Tochter Tal. Im Hebräischen bedeutet der Name Tal „Morgentau“. Diesen Morgen erwachen zu sehen und sich daran zu erfreuen, das war eine wichtige Botschaft, die Tal hinterlassen hat. Am 3. März 2003, zwei Tage vor ihrem Tod, schrieb Tal in ihr Tagebuch: „Ich bin grundlos glücklich und stolz darauf.“ War das ihr Wille, könnte das das Testament eines nicht einmal 18-jährigen Mädchens sein?

Ich komme nicht umhin, Deutschland mit Haifa zu vergleichen. An beiden Orten ist der Tagesanbruch ruhig, in Süddeutschland verspricht er entspannend zu werden und dauerhaft. Zu Hause muss ich mich nur fragen, wie lange diese Ruhe andauern wird, wann wieder die Sirenen heulen. Machen sich in Deutschland die Leute auf den Weg zur Arbeit, wählen sie in der Regel die kürzeste Strecke. In Haifa frage ich mich immer, was der sichersten Weg sein könnte, den Raketen zu entgehen, und ob meine Druckerei nicht über Nacht in Schutt und Asche gelegt wurde. Wer in Deutschland einkaufen geht, verschwendet keinen zweiten Gedanken an eine so alltägliche Handlung. In Haifa werden wir dazu angehalten, das Einkaufen möglichst schnell, alleine und nur dann zu erledigen, wenn es sich wirklich nicht vermeiden lässt.

Gestern Abend begegnete ich einem jungen Mann, er war ungefähr im Alter meiner Tochter, er hätte mein Sohn sein können. Dieser nette junge Mann saß im Rollstuhl. Jedes Mal, wenn ich jemanden in einem Rollstuhl sehe, muss ich wieder an Tal denken. Ich als ihr Vater wünschte mir, sie hätte den Anschlag überlebt, egal zu welchem Preis. Aber was hätte Tal davon gehalten, den Rest ihres Lebens als Behinderte zu verbringen? Ich als ihr Vater habe darauf meine eigene, selbstsüchtige Antwort. Aber Tals Antwort auf diese philosophische Frage kenne ich nicht und werde sie auch nie kennen.

Ron Kehrmann (Haifa) schreibt im Wechsel mit Iman Humaidan Junis (Beirut) aus dem Kriegsgebiet. Aus dem Englischen von Arno Frank