: „Es ist wie Perestroika in Zeitlupe“
KUBA Der Schriftsteller José Manuel Prieto über Reformen der Regierung Raúl Castro und das Ende des Gleichheitsprinzips in Kuba
José Manuel Prieto, 1962 in Havanna geboren, verließ Kuba als 19-Jähriger bereits 1981, um in der damaligen Sowjetunion Elektrotechnik zu studieren. Nach fünf Jahren kehrte er 1986 nach Kuba zurück, arbeitete zwei Jahre lang als Ingenieur – und wechselte den Beruf, wurde Schriftsteller und Übersetzer. Anschließend reiste er erneut in die Sowjetunion, um als Übersetzer für eine sowjetische Literaturzeitschrift zu arbeiten. Ab 1993 lebte Prieto zehn Jahre lang in Mexiko, unterrichtete und wurde Chefredakteur einer Literaturzeitschrift. Zudem promovierte er über russische Literatur. 2004 erhielt er ein Stipendium für die USA, zog mit seiner Familie nach New York und blieb dort. Er bereist Kuba regelmäßig. 2008 erschien bei Suhrkamp sein Buch: „Die Kubanische Revolution und wie erkläre ich sie meinem Taxifahrer“. Zurzeit ist Prieto auf Einladung des DAAD zu Gast in Berlin.
INTERVIEW BERND PICKERT
taz: Herr Prieto, wie erleben Sie Kuba heute, einige Jahre nach Beginn der unter Raúl Castro eingeleiteten Reformen?
José Manuel Prieto: Ich habe die Zeit der Perestroika in der Sowjetunion miterlebt. Damals hat die kubanische Regierung sich all jenen Reformen verweigert – und aus der Sicht der Macht mit guten Gründen. Heute, fast 30 Jahre später, beginnt unser Land mit Reformen, die an damals erinnern, aber sehr, sehr vorsichtig, zurückhaltend und langsam, um auf keinen Fall irgendwie die Kontrolle zu verlieren. Es ist wie Perestroika in Zeitlupe. Die Langsamkeit lässt die Bevölkerung ein bisschen verzweifeln.
Besteht denn die Gefahr, dass die Lage explodiert?
Nein. Die politische Führung hat die Situation unter Kontrolle, und ich sehe keine Anzeichen für einen bevorstehenden Ausbruch sozialer Unruhen. Überhaupt nicht. Selbst die Spielräume der Dissidenten sind vorsichtig erweitert worden, und die Regierung selbst hat einige ihrer Kritikpunkte aufgenommen. Diese 30 Jahre Verspätung haben der kubanischen Regierung natürlich die Gelegenheit gegeben, die Reformprozesse und Ergebnisse in anderen Ländern wirklich auszuwerten: Vietnam, China, Russland, Osteuropa. Wie führt man Reformen durch, ohne die totalitäre Staatsmacht aufzugeben? Das ist die Quadratur des Kreises, aber das ist ihr Ziel.
Welche Rolle spielen die Intellektuellen und Künstler heute in Kuba?
Es gibt eine Flexibilisierung. Ja, manche gehen noch immer ins Gefängnis, aber insgesamt sind die Spielräume größer. Es gibt Diskussionen unter Intellektuellen, unter Dissidenten, aufgezeichnete Debatten, die von Kuba aus ins Internet gestellt werden – das wäre alles vor 20 Jahren undenkbar gewesen. Die Schriftsteller und die Dissidenten bringen bestimmte Reflexionen in die Debatte ein, und ich habe den Eindruck, dass zumindest ein Teil der Regierung, vor allem jüngere Funktionäre, da auch sehr genau hinhört.
Wie wird denn heute auf Kuba die Rolle der Exilkubaner gesehen, die jahrzehntelang als „Würmer“ beschimpft worden waren?
Viele Kubaner haben heute Verwandte in den USA, die inzwischen – oder sogar qua Geburt – US-Bürger sind. Bis 1979, in den ersten zwanzig Jahren der Revolution, wurde die Exilgemeinde komplett negiert. Der wirtschaftliche Erfolg der Kubaner in den USA hat wesentlich zu ihrer Anerkennung beigetragen. Die Annäherung an die Diaspora hat eine ökonomische Logik: Geldsendungen aus den USA sind wichtig, und viele in den USA lebende Kubaner kommen auch als Touristen zurück auf die Insel. Nach wie vor lässt Kuba bestimmte Personen, die als extrem regierungsfeindlich eingestuft werden, nicht einreisen. Aber ich kenne Kubaner im Ausland, die sehr kritisch über Kuba schreiben und trotzdem einreisen können. Auch das ist also flexibler geworden.
In der vergangenen Woche hat die Europäische Kommission beschlossen, den Weg für einen neuen Dialog mit Kuba zu öffnen. Was würde eine Öffnung Europas – und womöglich der USA – heute für Kuba bedeuten?
Europäische Touristen kommen ja schon, auch europäische Firmen sind in Kuba vertreten. Weitere Öffnung würde als diplomatischer Erfolg gewertet werden, hätte aber keine drastischen Auswirkungen. Eine Aufhebung des US-Embargos hingegen hätte sofortige Folgen: durch die geografische Nähe, durch die Handelsbeziehungen, die sofort entstehen würden, durch den einsetzenden Massentourismus aus den USA nach Kuba. Aber ich sehe nicht, dass wir in naher Zukunft mit solchen Schritten rechnen können.
Manche meinen, eine Aufhebung des US-Embargos wäre die größte Gefahr für die Macht der kubanischen Regierung.
Das glaube ich nicht. Eine Aufhebung des US-Embargos wäre zunächst einmal eine Riesenerleichterung, und ich sehe nicht, dass die politischen Implikationen die Regierung irgendwie in Gefahr bringen könnten. Sie würde davon profitieren. Ich glaube, das Embargo war ein Riesenfehler der USA. Sie müssten es aufheben.
Sie leben in den USA. Auch die kubanische Gemeinde dort ist sich längst nicht mehr einig über die richtige Linie. Wie nehmen Sie diese Veränderungen wahr?
Ich habe keinen Kontakt zu irgendeiner der Organisationen, und ich lebe in New York, wo die kubanische Community anders ist als in Florida. Aber: Der traditionelle Anticastrismus der Exilorganisationen hat in den USA schon lange schlechte Presse. Sie haben es nie geschafft, einen kohärenten Diskurs zu entwickeln, um ihre persönliche Tragödie, den Gang ins Exil, in der Öffentlichkeit gut darzustellen. Stattdessen haben sie einen extremistischen Ton an den Tag gelegt, der nicht gut ankommt. Heute ist das Exil diversifiziert: Es gibt die sehr aggressive Linie, aber es gibt auch jene Exilkubaner, die regelmäßig in die alte Heimat reisen.
Wenn Sie sich Kuba im Jahr 2034 vorstellen, was sehen Sie?
Schon jetzt hat Kuba das alte Ideal der sozial homogenen Gesellschaft aufgegeben. Elemente des Kapitalismus kommen wieder, die Gesellschaft strukturiert sich neu, und sie wird weiter auseinandertreiben. Es wird wieder eine Mittelschicht entstehen. Eine Klasse mit größerer Kaufkraft und eine neue Armut. Das wird der sichtbarste Wandel in Kuba sein. Genau wie in allen ehemals sozialistischen Ländern. Und in den Bereichen, die als Errungenschaften der Revolution gelten, Gesundheit, Bildung, wird es weiter bergab gehen, wie in den letzten Jahren schon. Die Programme haben bis in die achtziger Jahre funktioniert, mit sehr viel Unterstützung der damaligen sozialistischen Länder. Seither immer schlechter.
Und politisch?
Schwer zu sagen. Zurzeit habe ich den Eindruck, dass die Führung den Übergang zur nächsten Generation gut vorbereitet hat und die Vormachtstellung der Kommunistischen Partei so schnell nicht angetastet wird.
■ Lesung und Gespräch mit José Manuel Prieto: Heute 19.30 Uhr, Instituto Cervantes, Berlin