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Archiv-Artikel

Nest der Fremdlinge

Uneindeutige Gefühls- und Wetterlagen bergen Chancen. Das zeigen Nico and the Navigators in ihrem Stück „Wo du nicht bist“ in den Sophiensælen

VON SIMONE KAEMPF

Ein Mann lässt eine Frau in zärtlicher Langsamkeit an seiner Zigarette ziehen, als sei das der ersehnte Kuss. Es gibt einen Schlitten, auf dem zwei so eng sitzen, wie es nur dicke Freunde tun. Dann wird der Schlitten als Tornister geschultert. Die Freundschaft ist vorbei oder der Winter. So ist das im dem Stück „Wo du nicht bist“ von Nico and the Navigators. Im Moment des Abschieds bleibt bei allem Unglück ein kleines Stück vom Glück, mit dem man sich erinnern, verkriechen, vertrösten kann. Mehr Metamorphose als in diesem Stück geht nicht mehr.

Seit ihrer ersten Arbeit in den Sophiensælen im Jahr 1999 sind Nico and the Navigators viel im Ausland getourt, und weil sie dort mittlerweile finanzielle wie personelle Unterstützung bekommen, werden die Inszenierungen größer, üppiger, internationaler. „Wo du nicht bist“ ist in Kooperation der Bregenzer Festspiele und der Sophiensæle entstanden. Demnächst geht es nach Spanien und Ungarn. Eine USA-Gastspielreise ist geplant. Weil sie unter erhöhtem Kultverdacht stehen. Weil jeder die nonverbale Körpersprache der Performer verstehen kann, die untersuchen, wie das geht: glücklich sein, wo doch der schönste Moment im Leben wieder vorbeigeht und das breiteste Lächeln zum giftigen Pfeil wird. Die Trauben, die eine Darstellerin sich eben für jeden guten Silvestervorsatz in den Mund gesteckt hat, spuckt sie beim ersten Streit ihrem Liebsten ins Gesicht.

„Wo du nicht bist“ ist ein typischer Nico-and-the-Navigators-Abend: ein bisschen künstlich, ein bisschen verschroben und melancholisch. Ein Ineinandergleiten von Szenarien. Dinge zerschneiden Stimmungen und schaffen neue. Ein roter Ball rollt einsam über die Bühne, die man im sanften Licht eben noch für eine Dünenlandschaft am Meer hielt. Darin die acht Nicos, mit Hüten, windzerzausten Frisuren, Kleidern und Anzügen wie auf einem Ausflug in den 20er-Jahren, aber doch in Soft-edge-Optik von heute.

Doch „Wo du nicht bist“ ist auch ein Schubert-Liederabend, dessen Leitmotiv aus dem „Wanderer“-Lied stammt. Ein Mann aus dem Gebirge kommt ans Meer, wo er bekennt: „Ich bin ein Fremdling überall.“ Diese Geschichte zieht sich als roter Erzählfaden durch den Abend, der wie ein gemeinsamer Ausflug ans Meer beginnt. Gruppen bilden und lösen sich. Miyoko Urayama, die Japanerin unter den Performern, isst allein mit Reisschale und Stäbchen. Jeder ist ein Außenseiter, den das Kollektiv abstößt – und immer wieder aufnimmt, denn die Gruppe um Nicola Hümpel macht Theater, das bei allem leisem Schmerz auch aus Nestwärme geboren ist.

Die Heimatcombo „Franui“ begleitet den Abend mit verschiedenen Schubert-Liedern, die für Geige, Gitarre, Zither, Blech und Hackbrett instrumentiert wurden. „Die Gerätschaft einer Tanzkapelle taugt zur Wiedergabe von Trauermärschen“, beschreiben „Franui“ Einsichten ihrer Arbeit, und so wie die Nicos den Moment zwischen Schmerz und Glück suchen, klingt auch die Musik unaufdringlich aus dem Dazwischen.

Die Musiker sitzen in Oliver Proskes Bühne in einer geschlossenen Box, die anfangs wie eine Spieldose angekurbelt wird. Davor, auf der gewellten Plastikbühne, wechseln die Landschaften je nach Lichteinsatz wie in einem Wetterhäuschen: Sommerdünen, Schneehügel, All-Jahres-Schmudelwetter. Aber der regendurchnässte wie fröhliche Abgang aller Beteiligten vermittelt die Erkenntnis, dass uneindeutige Wetter- wie Gefühlslagen nicht in Selbstmitleid oder Gefühllosigkeit enden müssen. Einmal mehr trotzen Nico and the Navigators dem Ganzen lebenstüchtige Befreiung ab.

In den Sophiensælen, am 12., 13., 15 und 16. 8. jeweils 20 Uhr