Die Teufelshörner sieht man nicht

ESSAYFILM Zum ersten Mal außerhalb Nordamerikas, zum ersten Mal digital: Mit „Ruhr“ betritt James Benning Neuland

Meditative Wahrnehmung ist heutzutage kein Anlass zur Weltflucht, sondern die Grundlage, um die allereinfachsten, innerweltlichen materiellen Kausalitäten überhaupt zu sehen

VON DIEDRICH DIEDERICHSEN

Der Wald steht stumm und schweigt. Das Dickicht, eher flach gefilmt, könnte auch in einem Park stehen oder einer anderen städtischen Grünanlage. Langsam schwillt ein sirrendes, unbestimmtes Geräusch an, das dann immer klarer als Düsenjet identifizierbar wird, bis auch tatsächlich klar durch Blätter und Geäst hindurch in der Mitte des Tableaus ein typisches Mittelstreckenflugzeug, B-737 oder A-320, das Bild durchquert. Dann ist wieder Ruhe. Eine Weile. Noch eine Weile. Was für Bäume mögen das sein? Das Licht lässt die Rinde nicht wirklich erkennen, die Blätter auch nicht. Da. Eine Luftbewegung raschelt durch die Bäume, eine plötzliche, unangekündigte Böe. Blätter fallen herunter, Unruhe erhebt sich. Dann ist es wieder vorbei. So ein bisschen Luft ist doch viel gewalttätiger als das fette, tonnenschwere Flugzeug, das das eben durchbrauste, denkt man. Dann ist wieder Ruhe. Ein weiteres Flugzeug kündigt sich von der Grenze des akusmatischen Gebietes an – des hörbaren, aber nicht sichtbaren Teils der gefilmten Realität. Es kommt näher und wird sichtbar, wird de-akusmatisiert, wie Sound-Theoretiker Michel Chion sagen würde.

Mit diesem Effekt arbeiten James Bennings lange Einstellungen besonders gerne: Wir versuchen uns die Räumlichkeit einer zweidimensionalen Projektion von gefilmter dreidimensionaler Realität durch den Soundtrack zu erschließen. Doch der spielt erst mal in der Acousmetre, diesem ebenfalls von Chion so benannten Quellgebiet von Geräuschen, das – im Gegensatz etwa zu einem Off-Kommentar – klar zu der Welt gehört, die wir im Bild sehen, aber die Klangquelle nicht offenbart. Nach einer geraumen Zeit, in der wir lange überlegen, ob ein Scheppern von einem Güterzug stammt, der auf einem oberhalb der Straße liegenden Bahndamm entlangdonnert, oder von einem Fahrzeug, das sich auf der lange sichtbaren Straße von hinter der Kurve langsam nähert, tritt die Quelle ins Bild, und uns wird klar, dass wir schon die ganze Zeit den Sound benutzt haben, um uns im Bild zu orientieren.

Mit einem ähnlichen Lerneffekt geht die Flugzeug-Geschichte aus. Ab dem zweiten Flugzeug und nach dem zweiten, zeitversetzten den kleinen Herbstwald entlaubenden Windstoß begreifen wir, dass es einen Kausalzusammenhang gibt: Die Flugzeuge lösen da oben die Luftverwirbelung aus, die dann eine gute Minute später die Blätter wegfegt. Man braucht aber die Ruhe, mit der die über zehnminütige Einstellung sich auf dieses unspektakuläre Stück Natur konzentriert, um sich überhaupt die Frage nach solchen Zusammenhängen zu stellen. Der Gegensatz zwischen tiefenentspannenden Bildern und Didaktik, der einem zunächst uneinleuchtend erscheint, löst sich auf. Heutzutage sind meditative Wahrnehmungsvoraussetzungen nicht mehr Anlässe zur Weltflucht, sondern die Grundlage, um die allereinfachsten, innerweltlichen materiellen Kausalitäten überhaupt zu sehen. Die alltägliche Trennung und Hierarchisierung der Sinne, so wird bei Benning immer klar, ist eine Voraussetzung für die Verstümmelung unserer sinnlichen Vernunft. In seinen Filmen soll diese Trennung nicht einfach holistisch geheilt werden, sondern zunächst erst mal vorgeführt werden. Am Objekt.

Für „Ruhr“ hat Benning nicht nur zum ersten Mal außerhalb der USA gedreht, sondern auch zum ersten Mal auf HD. Die Einstellungslängen, die sich bei ihm früher auch aus den technischen Vorgaben von Filmrollenlängen ergeben haben, sind auf HD quasi freigegeben. Zwar bleibt Benning bei runden Zahlen, sein neuer Film dauert genau 120 Minuten. Einstellungslängen sollen nicht impressionistischer Künstlerwillkür unterliegen und wenn schon nicht von Industriestandards, so doch von den Ecken und Kanten des Dezimalsystems abgeleitet werden. Aber er hat auch eine neue Freiheit gewonnen, sich noch gewaltigere Zeit-Raum-Relationen vorzunehmen als bisher: Die zweite Hälfte von „Ruhr“ ist eine einzige einstündige Einstellung auf einen gewaltigen Kühlturm, der in gewissen, unregelmäßigen Abständen in wunderschöne, farblich changierende Wolken eingehüllt ist. Während aber nach und nach die Sonne untergeht, spielt sich hier auch noch ein akusmatisches Inferno ab.

Aus dem Off unterhalb des Bildraumes – links, rechts und oben gibt es ja nur Abendhimmel – ertönen unregelmäßig und dem Laien schwer verständliche, bizarr schöne Lärmsequenzen aus vermeintlich untergegangener Industriekultur. Selten war ein Film dem alten musique-concréte-, aber auch Neue-deutsche-Welle-Traum einer Stahlwerksinfonie näher. Da sich ihr Getöse kaum den Gesetzen der Wiederholung fügt, die man industrieller Produktion immer unterstellt, sind der visualisierenden Fantasie keine Grenzen gesetzt, sich vorzustellen, welche Intonarumori und Teufelshörner da unten im Gange sind. Dem Begehren, die Quellen zu de-akusmatisieren, wird eh nicht nachgegeben. Stattdessen kann man sich in den Dampfwolken verlieren, die von Zeit zu Zeit das ganze Bild bedecken.

„Ruhr“ beginnt in einem Autotunnel, einer Eisenbahnunterführung, wie man sie in nach der Duisburger Love Parade immer wieder in den Nachrichten zu sehen bekam. Tatsächlich erweist sich an der Wahl dieses Bildausschnitts auch das Benning-Gespür für typische urbane Landschaften. Diese Tunnel gehören zur Ruhr-Area, wie der Amerikaner die Gegend nennt. Dennoch ist „Ruhr“ kein Film geworden, der eine Gegend zugleich so phänotypisch wie politisch analytisch erschöpfend porträtiert, wie es Benning etwa mit dem agrikulturell-industriellen Komplex Kaliforniens in „El Valley Centro“ gelungen ist. Eher setzt „Ruhr“ eine Idee von Ruhrgebiet voraus und spitzt diese dann zu oder kehrt Erwartungen um – ähnlich ist Benning bei seinem Los-Angeles-Film „Los“ vorgegangen.

Eine kleinbürgerliche Siedlung in der Abendstimmung, jemand muss mit dem Hund raus, aus der Nähe klingt Klaviermusik. Diese Idylle ist vor allem für diejenigen gedacht, die die Flughafenwäldchen, nächtlichen Unterführungen und gewaltigen Raucheruptionen schon auf inneren Bildern zu einer kohärenten Kartografie des Ruhrgebiets zusammengeführt haben, die nun noch einmal mit einem Gegenbild aufgelockert wird. Zu den Hits gehört das Bild von der Arbeit eines Graffiti-Entferners. Dessen Reinigungsaufgabe sieht aus wie ein Brückenpfeiler, den Benning als mittlere Tafel eines Triptychons, genau zwischen zwei gleich großen Flügeln aus unbestimmten Feldstücken kadriert hat. Geduldig macht der Mann mit dem Ätzgerät immer größere Flächen, die bunt und comichaft waren, nach und nach schwarz, während es links und rechts dem undefinierbaren Feld egal ist. Eine seltsames regressiv-modernistisches Wohlgefühl stellt sich ein: Der abstrakte Maler Ad Reinhardt ist zurückgekommen und bringt die Städte wieder in Ordnung.

Tatsächlich handelt es sich aber um Richard Serras Arbeit „Bramme für das Ruhrgebiet“, von dem man hier ungefähr das untere Drittel sieht. Serra hat die Spuren des sozialen Gebrauchs incl. Graffiti auf seinen Skulpturen für den öffentlichen Raum immer als Teil ihrer Aufgabe akzeptiert: „I mean people sit on it, write on it, piss on it, you really can’t hurt it, I mean you can graffiti the fuck out of it, there’s not much you can do to it hurt it“, erklärte Serra dem Coagula-Magazin 1998. Während hier also eine fiktive museale Sauberkeit rekonstruiert werden soll, werden zugleich die vorgesehen Spuren des Gebrauchs getilgt und damit erst in der Rekonstruktion dem Werk gewissermaßen Schaden zugefügt. Gereinigt sieht es natürlich besser aus. In diesem paradoxalen Zwiespalt tritt die sorgfältige Linienführung, die eigenartige handwerkliche Dignität der Graffiti-Entfernung in den Vordergrund. Nach dem Minimalisten Serra und den sprühenden Pop-Artisten kommt ein neuer, negativer Künstler in die Stadt.

■ „Ruhr“. Regie: James Benning. Essayfilm, Deutschland 2009, 120 Min.