: Von der Aue gegen Sonderknast
JUSTIZ Justizsenatorin und Strafverteidiger kritisieren geplante Änderung bei Sicherungsverwahrung: Bundesregierung will entlassene Straftäter künftig in gesonderten Einrichtungen einsperren
RECHTSANWALT SEBASTIAN SCHARMER
Die Einigung der Bundesregierung zur Sicherungsverwahrung stößt bei Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) und in Strafverteidigerkreisen auf große Skepsis. Die geplante Regelung sei „nicht menschenrechtskonform“, erklärte von der Aue. Auch Rechtsanwalt Sebastian Scharmer, Experte für Sicherungsverwahrung, befürchtet: „Die Inhaftierten sollen mit einem Etikettenschwindel weiterhin menschenrechtswidrig festgehalten werden.“
Am Donnerstag beschlossen Union und FDP, dass Inhaftierte, die aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden, in neuen Einrichtungen mit therapeutischer Betreuung untergebracht werden sollen, die vom regulären Strafvollzug losgelöst sind. Sicherungsverwahrung wird unter anderem bei schwersten Straftaten gegen Leib und Leben verhängt.
In Berlin sitzen zurzeit 37 Männer in Sicherungsverwahrung. Bei 7 von ihnen steht aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) noch in diesem Jahr die Entlassung an. Weitere 13 sollen bis 2018 folgen. Das Straßburger Gericht hatte im Dezember 2009 entschieden, dass die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung gegen die Menschenrechtskonvention verstößt.
Betroffen von dem Urteil sind alle Inhaftierten, die vor 1998 zu Sicherungsverwahrung verurteilt worden sind. Bis dahin war diese auf zehn Jahre begrenzt. Seit 1998 kann auch unbefristet weggesperrt werden. Davon machte die Justiz auch bei Gefangenen, die vor 1998 verurteilt worden sind, weidlich Gebrauch. Der EGMR hat jedoch festgestellt, dass eine im Nachhinein verlängerte Sicherungsverwahrung gegen das Rückwirkungsverbot verstößt. „Es ist ein Verfassungsgrundsatz, dass niemand aufgrund von Gesetzen verurteilt werden kann, die es zum Tatzeitpunkt noch nicht gegeben hat“, erklärte Rechtsanwalt Scharmer. Auch die nachträgliche Sicherungsverwahrung, die der Bundesgesetzgeber 2004 neu eingeführt hat, habe der EGMR „indirekt beanstandet“. Seit 2004 kann Sicherungsverwahrung auch nachträglich während der Strafhaft angeordnet werden.
Bundesweit sitzen rund 500 Menschen in Sicherungsverwahrung. Circa 70 bis 80 sollen in den kommenden Wochen und Monaten aufgrund der EGMR-Entscheidung freikommen. Dabei handelt es sich um Menschen, die den größten Teil ihres Lebens im Knast verbracht haben und deshalb schwer hospitalisiert sind. Sicherungsverwahrte in deutschen Gefängnissen seien praktisch aufgegeben, sagt Scharmer.
Wie das aussieht, beschreibt der EGMR in seinem Urteil, in dem er einen Bericht des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter zitiert. Dieser hatte im November 2005 die Sicherungsverwahrten-Station in der Justizvollzugsanstalt Tegel aufgesucht. Die räumliche Ausstattung sei nicht zu beanstanden, heißt es im Bericht. Aber die große Mehrheit der Gefangenen sei ohne Hoffnung, jemals wieder freizukommen, und somit „vollkommen demotiviert“. Die psychologische Betreuung und Unterstützung „schien äußerst unzureichend zu sein“.
Seit März ist die Anstalt darum bemüht, die Männer auf ihre Entlassung vorzubereiten.
PLUTONIA PLARRE