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Archiv-Artikel

„Fleiß, Ordnung, Sicherheit“

Die Jugend von heute rebelliert nicht mehr gegen die Eltern. Das liegt an der unsicheren Zukunft, sagt der Soziologe Klaus Hurrelmann anlässlich des Tags der Jugend am vergangenen Samstag

INTERVIEW SUSANNE SITZLER

taz: Herr Hurrelmann, ist die Jugend von heute jung?

Klaus Hurrelmann: Natürlich sind junge Leute jung. Und sie reagieren intuitiv und spontan auf Anforderungen des Lebens. Das ist per Definition jung.

Und wie reagieren sie?

Wir haben es heute mit überraschend pragmatischen und konventionellen Jugendlichen zu tun. Das äußert sich in ihrer Wertorientierung: Im Unterschied zu den eigenen Eltern ist in dieser Generation eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte zu beobachten – auf totgeglaubte Dinge wie Fleiß, Ordnung und Sicherheit.

Wie kommt das?

Die Arbeitsmarktsituation und damit die ganze berufliche und persönliche Zukunft für die junge Generation ist unklar. Sie muss sich wieder auf den Materialismus besinnen, muss schauen, dass die Kasse stimmt und dass die Lebensverhältnisse intakt sind.

Das mussten die Eltern nicht?

Die Eltern gehören noch zu einer Generation, in der die postmaterialistische Orientierung eine Rolle spielte: Sie waren sich ihrer materiellen Absicherung sicher und konnten deshalb andere Ziele wie Selbstbestimmung, Lebensgenuss oder Kreativität verfolgen.

Genauso gut könnte die Jugend von heute mit Protest auf die schwierige Lage reagieren.

Protest zeigt sich nur in kleinen Ansätzen, hier und da. Auffällig ist, dass die Jugendlichen konsequent versuchen, durch Verbesserung der eigenen schulischen Position auf die Situation zu reagieren.

Begehrt nur eine Generation auf, die es sich leisten kann?

Es ist eine alte politikwissenschaftliche Erkenntnis, dass die Organisation von Protest und das Artikulieren von Gegenstimmen nicht von denen kommt, die in großer Not sind – die sind zu sehr mit ihrer Not beschäftigt. Sondern es kommt von denen, die souverän mit der Lebenssituation umgehen können und gleichzeitig eine politische Phantasie davon haben, wie es anders sein könnte. Das ist eine ganz kleine Gruppe.

Würden Sie junge Menschen dafür kritisieren, dass sie zuerst an sich selbst denken?

Nein, ich bin vorsichtig mit Kritik. Wir Älteren müssen uns immer wieder vergegenwärtigen, dass die Jugend eine sehr lang gestreckte Lebensphase ist, von der man nicht genau weiß, wie sie gestaltet werden soll. Diese Offenheit bietet viele Optionen, aber sie gibt nicht die Gewissheit, eines Tages einen sicheren Platz in der so genannten Erwachsenengesellschaft zu haben. Und das, so glaube ich, führt zwangsläufig und nachvollziehbar dazu, dass man sich erst einmal fragt: Wo stehe ich? Was will ich? Dieser egozentrische Dreh ist für das soziale Leben geradezu notwendig.

Effektiver als Egozentrik wäre es aber, wenn Jugendliche die Verbesserung ihrer Lage einfordern würden.

Von außen betrachtet, könnte man sich eine Solidarisierung vorstellen. Sie ist nicht da, weil die Grundmentalität unserer Gesellschaft sehr individualistisch ist. Gerade die junge Generation nimmt das stark an. Sie sehen das auch daran, dass die Bereitschaft, sich in politischen Parteien, in kirchlichen Institutionen oder Wohlfahrtsverbänden zu engagieren, kaum vorhanden ist. Nur wenige junge Leute glauben aus politischer Tätigkeit einen persönlichen Gewinn erzielen zu können.

Fehlt es dem Nachwuchs vielleicht an Vorbildern? An wem orientieren sich Jugendliche ?

Sie orientieren sich stark an den eigenen Eltern. Sie sind ihr soziales Modell zur Bewältigung des Alltags. Die Harmonie zwischen den Generationen, die wir heute haben, fällt auf. Man müsste fast antworten: Weil die Eltern so sehr auf die Wünsche und Interessen ihrer Kinder eingehen, ihnen viel Spielraum und Mitbestimmungsmöglichkeit gestatten, kommt es möglicherweise nicht dazu, dass diese aufbegehren.

Wie kommt es zu dieser Kuschelhaltung?

So würde ich das nicht nennen. „Kuscheln“ klingt wertend! Diese Haltung ist viel mehr ein Vertrauensvorschuss an die Gesellschaft und an die ältere Generation in der Hoffnung, dass man am Ende nicht hängen gelassen wird. Wenn man einen Vergleich zu den Unruhen in Frankreich ziehen möchte, sieht man, dass sich die Verhältnisse noch weiter zuspitzen müssen, bevor die junge Generation, die in den europäischen Ländern sehr ähnlich orientiert ist, hier anfängt unruhig zu werden.

Sie sagten zuvor, alte Tugenden wie Fleiß und Ordnung leben wieder auf. Junge Frauen wollen aber nicht leben wie ihre Großmütter, oder?

Nein, die junge Generation der Frauen kann sich die traditionelle Hausfrauenrolle kaum noch vorstellen. Im Gegenteil: diese jungen Frauen möchten im Idealfall eine gute Ausbildung, berufstätig sein und gleichzeitig eine Familie mit Kindern haben.

Wie ist das bei den jungen Männern?

Die klammern sich an ein konservatives Männerbild und warten darauf, dass nun endlich wieder die Rolle des Mannes als Familienernährer und alleiniger Normsetzer an Boden gewinnt. Gleichzeitig spüren sie aber, dass all das in weiter Ferne liegt, deshalb sind viele von ihnen irritiert.

Das passt irgendwie nicht zusammen...

Ja, deswegen brauchen wir Impulse für junge Männer, damit sie sich mit der veränderten Lebenssituation in den Bereichen Beruf und Familie auseinander setzen. Erst wenn hier, wie bei den Frauen, eine kollektive Neuorientierung eingeleitet werden kann, wird auch die Bereitschaft wieder wachsen, eine Familie mit Kind zu gründen. Denn auf diese partnerschaftliche Konstruktion lassen sich junge Männer nur sehr zögerlich ein.