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Archiv-Artikel

Die Null zwischen den Einsen

Mental Maps von Markthallen-Kunden, Gespräche über Hatun Sürücü, Dekadenz und Traurigkeit: Die „Berliner Ermittlungen“ stellen neun Ortserkundungen vor, die bildende Künstler, Regisseure und Tänzer aus ganz Europa für Berlin entwickelt haben

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Das Obst zum Beispiel, oder der Fisch: Sie haben schon einige Kilometer zurückgelegt, bevor sie an den Ständen in der Marheineke-Markthalle in Kreuzberg die Käufer anlachen. Früher war das den Leuten oft klarer: Markthallen waren der erste Ort der Stadt, an dem sich die Gerüche von Weitgereisten bündelten. Heute kämpfen sie um ihr wirtschaftliches Überleben und werden höchstens noch als Teil lokaler Kiezkultur geschätzt. Schon deshalb ist die Halle gut gewählt als Standort für „Maps in Minds“, ein Kunstprojekt der Portugiesin Gabriela Vaz. Ihr geht es um die Topografien, die jeder in seinem eigenen Kopf hat: die alltäglichen Wege, die man in Schritten zählen kann, bis hin zu den Reiserouten über die Grenzen der eigenen Stadt hinaus.

In der Marheinekehalle kann man nun (bis 16. 8. tägl. 12–18 Uhr) ihre Fragebögen ausfüllen sowie Karten- und Lagepläne zeichnen. Hinter dem Tisch, an dem die Markthallenbesucher zur Mitarbeit eingeladen werden, hängen ausgefüllte und vollgezeichnete Bögen, die Gabriela Vaz hier und an den vorherigen Projektstationen in Portugal, Österreich und Belgien erhalten hat. Was ist Ihre Lieblingsecke in der Wohnung? Was ist für Sie der zentrale Punkt der Stadt? Was würden Sie finden, wenn Sie nach Norden/Süden/Osten/Westen gehen? Manche haben Städtenamen hingeschrieben, andere auch Freunde, die sie in allen Himmelsrichtungen besuchen könnten. Einmal heißt es: Im Norden Kälte, im Süden Wärme, im Osten Traurigkeit, im Westen Dekadenz.

Wie sieht man die eigene Position? Der zeichnerische Zugriff zwingt zu Abstraktion, die Erwachsene wie Kinder mit ähnlichen Mitteln hinkriegen. Hier, das bin ich: die rote Null zwischen lauter schwarzen Nullen und Einsen. Oder dieses rote Kreuz am Rande eines Rechtecks. Einige dieser Karten – mal komplexe Netzstrukturen, mal aber auch konzentrische Kreise wie nach einem Steinwurf ins Wasser – hat Gabriela Vaz in Stickbilder übersetzt, die Ballons überziehen: So entstehen Globen individueller Weltbilder, die in der Markthalle in einer gazeumspannten Koje liegen.

Die Installation der portugiesischen Künstlerin ist Teil des Projekts „Berliner Ermittlungen“, das die Tanzfabrik präsentiert. Vaz’ Thema waren schon immer Ortserkundungen – und deshalb passt sie gut in dieses Festival, das unter dem Motto „connecting sites and communities“ steht. Tänzer und Choreografen arbeiten an diesem Thema ebenso wie bildende Künstler, Schauspieler und Regisseure. Die „Ermittlungen“ sind ein Projekt von Apap (Advancing Performing Arts Projects), einem Netzwerk europäischer Kunstinstitutionen, das EU-Fördermittel für gemeinsame Aktionen erhält. So kommt es, dass Künstler aus Salzburg, Kortrijk (Belgien), Bytom (Polen), Castiglioncello (Italien), Torres Vedras (Portugal) jetzt in Berlin Station machen. Damit die Künstlerverschickung quer durch Europa nicht nur Produktaustausch ist, hat sich Eva-Maria Hoerster, die künstlerische Leiterin der Tanzfabrik und Kuratorin der „Berliner Ermittlungen“, das Motto als thematische Klammer ausgedacht.

Jeremy Xido und Claudia Heu, von Salzburg ins Rennen geschickt, drehen zum Beispiel an jeder der Stationen einen Film, der um ein Verbrechen kreist, das eine Stadt erschüttert hat. In Berlin haben sie sechs Wochen lang Gespräche zum Mord an Hatun Sürücü geführt. Ihr Film, der im Ballhaus Naunynstraße heute noch einmal um 17 und 19 Uhr läuft, ist dabei zu einem vielstimmigen Protokoll des Zweifels geworden, ob sich ein Mord tatsächlich aus Mustern der kulturellen Differenz erklären lässt. Die Interviews kreisen um die Geschichte der Familie von Opfer und Täter und um die Fragwürdigkeit der Begriffe von Integration und Tradition. Was dabei entsteht, und darauf kam es Jeremy Xido und Claudia Heu an, ist das Bild einer deutsch-türkischen Community, die unisono die medialen Erklärungsansätze von sich weist – der Ehrenmord als traditionelle Konfliktbewältigung –, sich mit diesem Selbstbild aber weder wahr- noch angenommen fühlt. Ein interessanter, wenn auch sehr anstrengender Film, der zwischen starken Meinungen keine Zeit zum Nachdenken lässt.

Neun Projekte gehören zu den „Berliner Ermittlungen“. Die Tanzfabrik selbst hat natürlich Choreografen losgeschickt. Martin Nachbar, der sich schon zuvor mit den Verbindungen zwischen den Raumwahrnehmungssystemen des Tanzes und der Geografie auseinandergesetzt hat, beschäftigt sich in einem Stadtrundgang mit der Berliner Mauer (Start am Checkpoint Charlie, 16. & 17. 8., 17 Uhr; 18. 8., 16 Uhr). Die Choreografin Anne Juren hat sich einen Sprachwissenschaftler und einen Dramaturgen als Mitarbeiter gesichert, um die Bewegungen und Gesten auf dem Tennisplatz an der Schaubühne zu analysieren (17. & 18. 8., 18 Uhr). Der Platz, der seit den 20er-Jahren populär ist, ist wie die Markthalle ein lokaler Garant für eine Gemeinschaft, hier eben die Welt der Tennisspieler. Profispieler wurden für die Performance gecastet. Auf Anweisung der Dramaturgie führen sie das Spiel als eine ritualisierte Collage aus Bewegungselementen auf. So wird schließlich jedes Match zu einem ganz speziellen Tanz.

www.tanzfabrik-berlin.de