: Aus dem Nichts gekommen
FILMGESCHICHTE Werner Herzog, Bruno S. und der Schauspieler, der keiner war
Kaspar Hauser war der Homunkulus des romantischen Zeitalters, ein Naturkind ohne Geschichte (oder aber mit einer edlen), eine Projektionsfläche für Garten- und Dschungelfantasien, für die Anhänger von Rousseau und die Ahnen von Darwin. Als Werner Herzog 1974 seinen Film „Jeder für sich und Gott gegen alle“ über den Fall Kaspar Hauser machte, tat er gut daran, diese Rolle mit einem Schauspieler zu besetzen, der nicht nur im eigentlichen Sinn kein Schauspieler war, sondern der wie das wilde Kind auch aus dem Nichts zu kommen schien. Bruno S. (Bruno Schleinstein) hat später immer wieder stolz bekräftigt, dass er vor der Arbeit mit Herzog „noch nie ein internationales Angebot“ bekommen hatte.
Kein Wunder. Es bedurfte schon einer großen Offenheit für die Bereiche jenseits des Kinos, um zu dieser Rollenbesetzung zu kommen. Herzog entdeckte Bruno S. allerdings auch schon in einem Film, in dem der Berliner Straßenmusiker als solcher auftrat: „Bruno der Schwarze – Es blies ein Jäger wohl in sein Horn“. Für die kleine Filmreihe, mit der das Babylon-Kino in Berlin Mitte in diesen Tagen an den kürzliche verstorbenen Bruno Schleinstein erinnert, wäre das ein sehr schöner Auftakt gewesen. Aber dieser Dokumentarfilm von Lutz Eisholtz bleibt schwer zu finden – vielleicht ändert sich das ja nun, da in Berlin doch eine ganze Reihe von Freunden des Schauspielers, Musikers, Künstlers sich bemühen, einer späten Wertschätzung über den kleinen Kreis von Eingeweihten hinaus die Grundlagen zu schaffen.
Die zwei Filme mit Werner Herzog bilden das Zentrum dieses Werks. Daran ändert auch nichts, dass Bruno S. seinen „Entdecker“ später gern herausgefordert hat. In dem Dokumentarfilm „Bruno S. – Die Fremde ist der Tod“ von Miron Zownir, den das Babylon auch zeigt, gibt es eine schöne Szene, in der Schleinstein eine Zeichnung in die Kamera hält und sagt: „Kann Werner Herzog das auch?“
Der inzwischen in den USA ansässige Herzog kann eine ganze Menge, die Talente seines kurzzeitigen Stars hat er sicher auch in einem gewissen Maß gefördert – man könnte es Bereitschaft zur Ungeschütztheit nennen, die bei Bruno S. biografisch allerdings viel stärker mit der Not assoziiert war, die er häufig zu leiden hatte. „Kein Wunder, dass manch einer wütend wird, dem man die Kindheit geraubt hat.“ Das ist auch einer seiner Sätze.
Herzogs Verständnis für seinen Protagonisten (und seine, wenn man so möchte, Fantasie für ihn) zeigt sich am besten in „Stroszek“, einer Reiseutopie, die in Berlin beginnt und weit im Westen der USA endet. Drei deutsche Ausgewanderte bilden hier eine Gegengesellschaft von Ortlosen, die sich – in einer der großartigsten Szenen des Films – in Amerika ein Wohnhaus auf Rädern ansehen und dann auch kaufen. Auf Kredit, versteht sich, und schon damals waren die Bedingungen für diese Hypothekardarlehen für Menschen wie Bruno S., Eva (Mattes) und den alten Scheitz eine Falle.
„Stroszek“ ist letztendlich eine negative Utopie, die ihre Kraft den drei Darstellern entlehnt, und der Vorstellung, man könnte in Amerika einfach in einer Landschaft verschwinden, die so groß ist, dass der Tod (durch Verhungern, Erfrieren?) schmerzlos wäre. In den Berliner Szenen taucht vieles aus dem tatsächlichen Leben von Bruno S. auf. Seine Wirkung auf den Film war nicht zuletzt die, dass er ihn in einem viel höheren Maß dokumentarisch machte, als er es bei der Besetzung mit einem professionellen Schauspieler gewesen wäre (für den Herzog ja mehr erfinden hätte müssen). Bruno S. hat den Neuen Deutschen Film nicht nur gestreift, er hat ihn imprägniert mit seiner Persönlichkeit. Und nun können wir nur noch die Spuren davon lesen.
BERT REBHANDL
■ Kino Babylon: 30. 8.–15. 9.