Ein perfides Szenario der Abschiebung

Obwohl eine Familie aus der Ukraine die Bedingungen erfüllte, um in Frankreich nachträglich eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, wurde sie jetzt abgeschoben. Tausende könnten noch folgen. Einwanderung wird wieder Wahlkampfthema

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Der kleine Vladislas soll im September nicht mehr auf dieselben Schulbänke wie seine FreundInnen in Corbeil-Essonne bei Paris zurückkehren. So hat es der zuständige Präfekt entschieden. Er ließ den Dreijährigen mit seinen Eltern am frühen Sonntagmorgen von Polizisten in ein Flugzeug nach Kiew bringen. Wenige Stunden nach Ablauf der „Gnadenfrist“, die Innenminister Nicolas Sarkozy Familien mit Schulkindern gewährt hatte, um ihren Aufenthalt in Frankreich zu regularisieren, war es die erste Abschiebung. Tausende weitere könnten in den nächsten Wochen folgen, befürchtet das Netzwerk „Erziehung ohne Grenzen“ (RESF), das bis zuletzt mit Faxen, Telefonaten und Demonstrationen vor Gericht und am Flughafen versucht hat, die Abschiebung zu verhindern.

Die Familie aus der Ukraine erfüllt nach Ansicht von RESF mehrere der Bedingungen, die der Innenminister gestellt hatte, um Aufenthaltspapiere zu bekommen: Die Mutter spricht gut Französisch, der kleine Vladislas ist in Frankreich zur Welt gekommen und geht seit einem Jahr in Frankreich in die Vorschule. Doch die Familie ist offensichtlich in eine Falle gegangen. Die Eltern hatten die Gnadenfrist genutzt, um einen Antrag auf Regularisierung zu stellen. Am Freitag wurden sie zum zweiten Mal auf die Präfektur geladen – mit der Auflage, die Pässe mitzubringen. Als sie ankamen, wurden sie in Abschiebehaft gebracht. Nachdem Polizisten den Eltern drohten, ihnen den kleinen Vladislas wegzunehmen und ihn in ein Heim zu geben, brach deren Widerstand zusammen: Sie willigten in ihre Abschiebung ein. „Vielen Dank“, sagte die weinende Mutter am Telefon zu Unterstützern, „wir müssen gehen. Wir haben keine andere Wahl.“ Ihre Anwältin Catherine Herrero spricht von „Erpressung mit dem Kind“.

Sehr viel mehr Familien als erwartet haben seit Ende des Schuljahres Gebrauch von der Möglichkeit gemacht, einen Antrag auf außerordentliche Genehmigung ihres Aufenthaltes in Frankreich zu machen. Innenminister Sarkozy hatte die am Wochenende abgelaufene Frist eingerichtet, nachdem LehrerInnen, Eltern, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen gegen die Abschiebung von schulpflichtigen Kindern und ihren Familien protestiert hatten. Sarkozy versprach „Menschlichkeit“ bei der Gewährung von Aufenthaltsgenehmigungen und „sorgfältige Prüfungen“ jedes einzelnen Antrags. Bis Ende vergangener Woche erhielten seine Behörden 24.000 Anträge. Das Innenministerium hat erklärt, dass es nur zu „5.000 bis 6.000“ Regularisierungen bereit ist.

Am Ende des Schuljahres haben viele LehrerInnen in Frankreich ihren SchülerInnen versichert, dass sie alles unternehmen werden, um im neuen Schuljahr wieder alle Kinder versammeln zu können. Seither sind die Mitglieder des vor zwei Jahren gegründeten Netzwerkes RESF mobilisiert. RESF hat es geschafft, selbst in entlegenen Orten der Republik abschiebebedrohte Kinder zu verstecken.

Während Sarkozy seinen Präsidentschaftswahlkampf mit energischem Vorgehen gegen die „illegale Einwanderung“ vorbereitet und damit die WählerInnen der Rechtsextremen umwirbt, machen linke PräsidentschaftskandidatInnen gegenteilige Versprechungen. Bei der Sozialisten verlangte Dominique Strauss-Kahn vergeblich, dass die Antragsfrist für papierlose Familien „um einen Monat verlängert“ wird. Sein Genosse Jack Lang kündigte an, die Partei würde Abschiebungen von Schulkindern nicht zulassen. Ein Dreivierteljahr vor den Präsidentschaftswahlen steht damit fest, dass der Streit über die Einwanderungspolitik wieder einmal Wahlkampfthema wird.