Auf dem Weg zu Gott

Was macht eigentlich Ernst Albrecht? Der ehemalige Ministerpräsident von Niedersachsen versucht, Menschen zu helfen und sieht dem Tod entgegen. Teil 4 der Serie über PolitikerInnen nach der Politik

von GERNOT KNÖDLER

Die Frage, was Ernst Albrecht tut, seitdem er nicht mehr das Land Niedersachsen regiert, ist schnell beantwortet: „Gutes tun im Sinne Gottes“, sagt er. Nicht, dass es ihm bei seiner Tätigkeit als EG-Beamter und Ministerpräsident nicht darum gegangen wäre. Doch die Zeit seit seinem Ausscheiden aus der Politik vor 16 Jahren steht für ihn unter einem besonderen Zeichen. „Am Ende dieser Lebensphase steht der Tod“, sagt Ernst Albrecht und lächelt.

Der Ministerpräsident a. D. sitzt auf einem Barockstuhl. Er hat die Beine übereinander geschlagen, die Hände übereinander gelegt und den Kopf leicht geneigt. Er zeigt das charmante Albrecht-Lächeln, das auch seine Tochter, die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen im Gesicht trägt, und das bei ihm, im Alter von 76 Jahren ein wenig entrückt wirkt. In seinem klein karierten, braun melierten Sportsakko, einer beigen Hose und mit leichten Gebrauchsspuren an der Kleidung wirkt Albrecht wie ein Landedelmann.

Durch hohe Fenster blickt er auf sechs Hektar Grundbesitz: Stoppeläcker, auf denen große Strohrollen liegen, Schafweiden, etwas Wald. „Das ist alles von mir geplant“, sagt der Hausherr. Gelegentlich habe er auch zum Spaten gegriffen und bis zum 70. Lebensjahr sei er noch zur Jagd gegangen. Dann wurden die Arme zu schwach, um noch einen sicheren Schuss anbringen zu können. 1976, als er Ministerpräsident wurde, ist Ernst Albrecht mit seiner Familie in das kleine Dorf mit Autobahnanschluss gezogen. „Wer mit der Natur verbunden leben kann, lebt doppelt“, findet er.

Der Bezug zu Gott hat im Leben des CDU-Politikers schon früh eine große Rolle gespielt. Sein Vater, ein Heidelberger Arzt, schrieb Bücher über „Das mystische Erkennen“ und die „Psychologie des mystischen Bewusstseins“. Als Teenager erlebte er den militärischen und moralischen Zusammenbruch seines Landes. Er studierte Philosophie und Theologie, unter anderem ein Semester bei dem Philosophen Karl Jaspers und dem Theologen Karl Barth. „Worauf kann man wirklich das Leben aufbauen?“, fragte sich der junge Mann.

Albrecht baute zunächst auf sich selbst, legte eine Bilderbuchkarriere hin. Er wurde 1954 europäischer Beamter und 1956 Sekretär des Ausschusses, der den Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft machte. Mit 37 Jahren war er als Generaldirektor für Wettbewerb bei der EWG-Kommission am Ende der Karriereleiter für europäische Beamte angelangt.

„Das kann ich nicht machen, bis ich 65 bin“, sagte er sich. Prompt bat ihn der niedersächsische Minister und CDU-Vorsitzende Wilfried Hasselmann, in die Landespolitik einzusteigen. Er war für das Amt des Wirtschaftsministers in einer künftigen CDU-Regierung vorgesehen, erzählt Albrecht. Schließlich wurde er statt Hasselmann Ministerpräsident. „So war das immer in meinem Leben“, sagt Albrecht. „Wenn ich eine innere Bereitschaft hatte, kam das auf mich zu.“

Als 14-Jähriger hat er seinem Vater in Bremen geholfen, Bombenopfer zu versorgen. Er schildert das nicht näher. Die Erlebnisse müssen ihn aber geprägt haben. Seine Generation habe sich geschworen, nie wieder so etwas wie die Schrecken des Krieges und der Nazi-Zeit zuzulassen und daher beschlossen, sich selbst um den Staat zu kümmern, sagt er.

„Ich hatte nie ein Problem mit der Macht“, sagt Albrecht.

Gegen Ende seiner Amtszeit wurden reihenweise Affären diskutiert, in die Albrecht mehr oder weniger verwickelt war: Der Verfassungsschutz sprengte 1978 mit Billigung des Ministerpräsidenten ein Loch in die Mauer des Celler Gefängnisses, um einen V-Mann in die RAF einschleusen zu können. Albrecht soll um 1970 in den Versuch eingeweiht worden sein, die CDU an den Einnahmen der niedersächsischen Spielbank zu beteiligen. Auch bei der überraschenden Wahl Albrechts zum Ministerpräsidenten mitten in der Legislaturperiode 1976 wurde angeblich getrickst: Ein ehemaliger CDU-Berater setzte das nicht belegte Gerücht in die Welt, die beiden entscheidenden Stimmen von FDP-Abgeordneten seien gekauft worden.

Keiner der zu verschiedenen Vorwürfen eingesetzten Ausschüsse habe irgendetwas Rechtswidriges feststellen können, sagt Albrecht. Die Vorfälle seien aufgebauscht worden. „Das war Schröders Wahlkampfmethode.“ Schröder, der Oppositionsführer im Landtag und spätere SPD-Bundeskanzler scheiterte Ende 1988 mit einem Misstrauensvotum gegen den CDU-Ministerpräsidenten Albrecht. Die Landtagswahl zwei Jahre später verlor die CDU deutlich, obwohl das Land nicht schlecht dastand. Die Niederlage, die viele Beobachter als Quittung für die vielen Skandale betrachteten, interpretiert Albrecht als Sorge vieler Wähler vor den finanziellen Lasten der Wiedervereinigung. Schröder war, insbesondere was die Geschwindigkeit der von der Union forcierten Vereinigung anging, skeptisch.

Für den Vater von sechs Kindern fügt sich sein Leben zu einem harmonischen Bild. Den Satz „Das war alles wunderbar“ sagt er in verschiedenen Varianten immer wieder. Auf Lebensphase zwei (EG-Beamter) und drei (Bahlsen-Manager und Politiker) folgte nahtlos Lebensphase vier: Gutes tun. Albrecht verabschiedete sich so plötzlich von der politischen Bühne, wie er sie betreten hatte. „Als ich 50 Jahre alt wurde“, erinnert sich der damalige Ministerpräsident, „notierte ich in meinem Block: vierte Phase, Fragezeichen.“ Ihm war klar, dass er von einer 80-Stunden-Woche nicht ohne Weiteres auf Null würde schalten können. „Stress ist was Wunderbares“, sagt Albrecht, der gläubige Protestant, begeistert.

Er blieb Präsident der von ihm gegründeten Stiftung Niedersachsen, die über die Verwendung der niedersächsischen Toto- und Lotto-Einnahmen befindet. Vier Monate nach der Landtagswahl übernahm er den Aufsichtsratsvorsitz des frisch in eine Aktiengesellschaft umgewandelten VEB Eisen- und Hüttenwerke Thale im Harz. Zwei Jahre später kaufte er den Betrieb zusammen mit dem Bremer Kaufmann Hans Henri Lamotte für eine Mark. Als studierter Volkswirt und ehemaliger Finanzvorstand der Keksfabrik Bahlsen sah er sich für diese Aufgabe gerüstet.

Mit Hilfe des Landes Sachsen-Anhalt und der Treuhandanstalt gelang es ihm, das tief rote Zahlen schreibende Unternehmen zu retten. Fünf Jahre später, als Albrecht das Unternehmen wiederum für eine Mark an die Gießener Schunk GmbH verkaufte, waren von 1.000 Angestellten noch knapp 500 übrig. Weitere knapp 400 arbeiteten in ausgegliederten mittelständischen Gesellschaften.

Auch sein politisch-administratives Know-how wusste Albrecht nach seinem Abschied von der Macht fruchtbar zu machen. Als der kirgisische Präsident Askar Akajew um persönliche Beratung für den Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates bat, sagte Albrecht erfreut zu. „Das war unheimlich bewegend für mich“, erinnert er sich. „Erstens konnte man politisch Gutes tun.“ Zweitens habe er 250 zuckerkranken Kindern das Leben retten können, indem er ihnen mit Hilfe der AWD-Stiftung Kinderhilfe Insulin verschaffte.

Die Mitarbeit im Kuratorium der Stiftung ist wohl sein letztes Ehrenamt. Als Privatmann unterstützt er finanziell und seelisch bedrückte Mitbürger. Wie zum Beweis klingelt es. Albrecht, der seinen Gesprächspartner nicht warten lassen will, hastet zum Telefon. Eine verwirrte Frau ist dran, die sich dann aber doch nicht helfen lassen möchte.

Ernst Albrecht glaubt nicht, dass er noch lange zu leben hat. Er versucht, seine irdischen Angelegenheiten gut zu regeln und sucht die Nähe seines Herrgotts. Wie? – „Durch innere Verbindung.“ Dem Tod sehe er völlig gelassen ins Auge, sagt er. „Ich glaube, dass ich in Gottes Reich in der Ewigkeit und wiedervereint mit meiner Frau sein darf“, sagt er. „Ich freue mich drauf.“