: Das Montagsinterview„Wir erleben eine Milieuverengung“
Johann Hinrich Claussen ist Pastor im feinen Harvestehude – er sorgt sich, dass die Kirche den Kontakt zu den Armen verliertARM ODER REICH Die evangelische Kirche ist fest in den Händen der Mittelschicht. Die Menschen von oben fehlen – aber auch die von unten. Letztere aus Scham, glaubt der Hamburger Propst Johann Hinrich Claussen. Er findet, dass sich die Kirche nicht damit abfinden darf
in Hamburg geboren. Der Vater war Bankkaufmann, die Mutter Hausfrau. Theologie-Studium in Tübingen, London und Hamburg. 1990/91 verbrachte er ein Jahr in Argentinien als Prävikar, danach Pastor in Reinbek. Seit 2004 Propst des Kirchenkreises Hamburg-Ost, seit 2007 Hauptpastor an der Nikolaikirche in Hamburg-Harvestehude.
INTERVIEW FRIEDERIKE GRÄFF
taz: Kirchenleute beklagen, die Kirche rieche nach Mittelschicht. Stimmt das, Herr Claussen?
Johann Hinrich Claussen: Die Kirche hat den Auftrag, sich insbesondere den Armen und Ausgegrenzten zuzuwenden. Zugleich merken wir, dass in unserem Gemeindeleben sozusagen Oben und Unten fehlt. Weder die besonders Begüterten fühlen sich in großer Zahl aufgerufen, an unserem Gemeindeleben teilzunehmen, noch die Menschen, die von Armut betroffen sind.
Warum nicht?
Das Gemeindeleben zieht bestimmte Menschen an und die gehören fast alle zur Mittelschicht, selbst in schwierigeren Stadtteilen. Es ist gar nicht so einfach, eine Atmosphäre herzustellen, in der Menschen, die von Armut betroffen sind, sagen: Wir sind hier willkommen, wir fühlen uns nicht beschämt.
Wenn überhaupt, scheint es zu gelingen, solange die Armen Objekt von Zuwendungen sind. Nicht aber, wenn sie als Akteure auftauchen sollen.
In einigen Gemeinden gelingt es, Veranstaltungen zu machen, zu denen ganz unterschiedliche Leute kommen. Ich kenne zum Beispiel eine Kirchengemeinde auf der Veddel, die einmal wöchentlich ein Abendbrot organisiert. Da kommen Leute, die einfach mal wieder warm und Fleisch essen wollen, und andere, die nicht ihr Butterbrot alleine essen wollen, alleinerziehende Mütter, Studenten.
Aber flächendeckend gelingt das nicht.
Gegenwärtig erleben wir eine Milieuverengung. Bei ganz vielen bürgerlichen jungen Leuten kommt über das Thema Familie und Kindeserziehung eine Rückbesinnung auf die christliche Tradition. Mir sagen Pastoren aus dem Konfirmandenunterricht: Er ist einfacher geworden, weil nur noch die Kinder aus den besseren Straßenzügen kommen. Sie sehen aber auch selbst, dass sie an die anderen aufgrund der eigenen Art und Kapazitätsmangel nicht herankommen.
Wo fehlen dann die Armen? Im Gottesdienst?
Es gibt natürlich auch viele Menschen, die wenig haben, die zum Gottesdienst kommen. Aber wir merken – das klingt jetzt zynisch, ist aber nicht so gemeint – dass in Deutschland die Armut kein religionsproduktiver Zustand ist. Historisch betrachtet oder in vielen Ländern der südlichen Halbkugel ist Armut ein Zustand, der dazu führt, dass man betet, dass man den Gottesdienst als Kraftquelle nutzt.
Sind diese Länder nicht eher katholisch geprägt?
Traditionellerweise ja, neuerdings aber eher pfingstlerisch. Die realisieren auf eine ganz eigene Weise, zum Teil sehr gut, zum Teil problematisch, was die katholischen Befreiungstheologen in den 70er Jahren gewollt haben: eine Kirche nicht nur für die Armen, sondern eine Kirche der Armen, die sich in Basisgemeinschaften organisieren.
Setzen die Armen, nachdem man sie lange mit dem Himmelreich vertröstet hat, ihre Hoffnung nicht inzwischen auf andere?
Wenn Menschen nichts von der Kirche wissen wollen, ist das zu respektieren. Aber es ist unser Auftrag aus dem Evangelium, bereitzustehen, wenn Menschen unsere Hilfe brauchen. Dass viele die Hilfe nicht annehmen, hat weniger damit zu tun, dass die Armen vor vielen Jahrhunderten dumm und still gehalten wurden, das passiert ja seit vielen Jahren nicht mehr. Ich glaube, dass es etwas mit Scham zu tun hat. Wir Pastoren sind ja immer Akademiker, bürgerlich geprägt, und die Kirche hat es dadurch schwerer, auf Menschen anderer Schichten zuzugehen. Zudem haben wir nicht mehr die Mittel für die Mitarbeiter, die das früher gemacht haben, vor allem die Diakone. Damit können wir uns aber nicht begnügen.
Und was tut die Kirche?
Wir haben gerade in Zusammenarbeit mit der Arbeitsstelle Kirche und Stadt an der Universität Hamburg einen Forschungsauftrag vergeben. Ein Kollege sieht sich unterschiedliche Gemeinden an und untersucht, wo Menschen, die von Armut betroffen sind, gerne sind. Er erlebt, dass in einer Gemeinde in Jenfeld, die evangelikal geprägt ist, ganz viel passiert.
Die berühmte Arche.
Genau. Man kann zwar fragen, ob das alles theologisch angemessen ist – aber er hat den Eindruck, dass dort das, was man neuerdings Empowerment nennt, fast zwanglos geschieht. Dass die Armen gerne kommen, sich nicht beschämt fühlen und die Angebote gerne wahrnehmen.
Ist die Kirche in Jenfeld fröhlicher?
Diese Gemeinde lebt aus einem großen Enthusiasmus, ist nicht problemorientiert, sie hat nicht dieses Nöl-Protestantische. Das Klischee des 70er Jahre Sozialprotestantismus ist etwas, was heute wohl eher akademische Linksprotestanten anzieht, aber nicht die Menschen, um die es geht.
Trotzdem sind Sie skeptisch.
Man muss schon auch fragen: Ist das nicht eine heimliche Entpolitisierung? Der Linksprotestantismus hat in den 70er Jahren zurecht eingeklagt, dass Sozialengagement für die Armen nur dann sinnvoll ist, wenn es auch politische Strukturen mit diskutiert. Das hat etwas Dauerkritisches und Negatives – aber es ist ein wichtiges Erbe, das man nicht einfach vergessen sollte.
Was kann die Kirche denn heute den Armen anbieten?
Es gibt eine Untersuchung des Sozialethischen Instituts der Evangelischen Kirche in Hannover, die Armut im ländlichen Raum beobachtet hat. Sie haben Interviews dazu geführt und die Antwort ist fast unisono: Die Leute erwarten keine sozialpolitischen Initiativen, auch nicht direkte Hilfe für sich selbst, weil das beschämend wirkt. Sie wollen Hilfe für ihre Kinder: gute Nachmittagsbetreuung, gute Ferienbetreuung.
In Ihrer Gemeinde im feinen Harvestehude begegnen Sie diesen Fragen nicht.
Es ist natürlich Teil des Problems, dass sich in Hamburg die Lebenswirklichkeiten in den Stadtteilen so stark voneinander abkoppeln. Das ist wirklich bedrohlich. Wir versuchen, da Berührungspunkte zu schaffen. Zum Beispiel dadurch, dass wir Obdachlose im Winter bei uns zu Gast haben, die in zwei Containern hinter dem Gemeindehaus leben. Wir haben Menschen aus der Gerichtshilfe, die bei uns im Kindergarten arbeiten. Und man darf nicht vergessen, dass es auch in einem derart reichen Stadtteil Formen verschämter Armut gibt, vor allem Altersarmut. Witwen beispielsweise, die seit vielen Jahren hier leben, noch mit der günstigen Miete von früher, vielleicht noch alte Kleidung und Reste alter Bürgerlichkeit haben, die aber richtig verarmt sind. Das ist, verglichen mit dem, was es in anderen Stadtteilen gibt, wenig, aber es existieren Ecken, an denen man das auch hier erleben kann.
War es Ihr Wunsch, gerade hier tätig zu sein?
Ich habe eine doppelte Funktion als Propst und Hauptpastor, diese Kombination hat mich interessiert. Also eine mittlere kirchenleitende Funktion zu übernehmen und gleichzeitig eine konkrete Gemeinde – und St. Nikolai bietet viele Möglichkeiten: schöne Gottesdienste mit toller Musik, ein wirklich aufgeschlossenes Publikum, Leute, die wirklich etwas wollen und etwas auf die Füße bringen.
Damit trifft dann ein bildungsbürgerlicher Pastor auf eine bildungsbürgerliche Gemeinde.
Ja, das stimmt.
Hatten Sie schon einmal engen Kontakt zu armen Menschen?
Ich bin sehr bürgerlich aufgewachsen, in Klein Flottbek, aber die Grundschulen waren damals noch sehr viel gemischter als sie es heute sind. Mein erster bester Freund war ein Arbeiterkind. Dann geht man seinen Weg und der verengt sich – das erlebe ich schon bewusst.
Ein Kollege von Ihnen, der Theologe Friedrich Wilhelm Graf, merkte in der FAZ an, dass der Theologennachwuchs in der evangelischen Kirche zunehmend weiblich sei und aus nicht-akademischen Elternhäusern stamme. Damit verband er die Befürchtung, dies zeige, dass der Berufsstand nicht mehr attraktiv sei.
Was sich vor allem verändert hat, ist, dass es nicht mehr so stark die Selbstrekrutierung aus Pfarrhäusern gibt. Der theologische Nachwuchs ist vielfältiger geworden und das finde ich gut. Dass das kirchliche Amt auch eine Form sein kann, einen sozialen Aufstieg hinzubekommen, ist erst einmal großartig. Es ist darüber hinaus nicht ganz falsch, wenn es auch noch Leute gibt, die die bürgerlichen Schichten ansprechen, damit die uns nicht auch verloren gehen. Denn die brauchen wir, um einen Solidaritätszusammenhang zu bilden.