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Archiv-Artikel

„Die Ausstattung ist zu mager“

GRUNDSCHULEN Erstklässler können nicht von Anfang an richtig gefördert werden, kritisiert die GEW-Vorsitzende Rose-Marie Seggelke. Zum heutigen Schulbeginn fehlten 70 Lehrer

Rose-Marie Seggelke

■ Die Grundschullehrerin ist seit 2005 Vorsitzende der Berliner Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.

INTERVIEW ALKE WIERTH

taz: Frau Seggelke, heute beginnt das Schuljahr für die neuen Erstklässler: Stimmt die Ausstattung der Grundschulen?

Rose-Marie Seggelke: Nach einer Umfrage, die wir gerade unter Grundschulen gemacht haben, fehlen dort derzeit noch um die 70 LehrerInnen.

Das sind relativ wenig. Wie sieht es bei ErzieherInnen aus?

Das ist noch unklar. Es läuft zurzeit ein Casting, um die freien ErzieherInnenstellen zu besetzen. Etwa 120 Stellen sind derzeit unbesetzt. Darin sind die etwa 80 dauerkranken Erzieherinnen noch nicht enthalten.

Wurden bei der Reform der Oberschulen, mit denen sich die Bildungspolitik zuletzt hauptsächlich beschäftigt hat, die Grundschulen vergessen? VertreterInnen von Grundschulen klagen, die Schulreform sei auf ihre Kosten gegangen.

Den Grundschulen ist nichts abgezogen worden. Die Sekundarschulen bekommen aber für Schüler mit besonderem Förderbedarf eine höhere Zumessung zusätzlicher Lehrerstunden als die Grundschulen. Das haben wir von Anfang an beklagt. Auch die Senatsbildungsverwaltung sieht ein, dass das nicht so sein sollte. Aber da hat man tatsächlich einen Schwerpunkt auf die Sekundarschulen gelegt, ohne die Ausstattung der Grundschulen entsprechend zu erhöhen. Da kann man sich benachteiligt fühlen, aber das ist keine Kürzung. Richtig ist aber, dass die Ausstattung der Grundschulen viel zu mager ist, wenn man Kinder von Anfang an fördern will.

Zu schlechte Ausstattung beklagen die Grundschulen auch bei der jahrgangsübergreifenden Schulanfangsphase, kurz SAPH, die die 1. und 2. Klasse zusammenfasst. Eigentlich sollte sie zum Schuljahr 2006/07 an allen Schulen eingeführt sein. Doch es sträuben sich immer noch einige. Warum?

Es gibt noch einige Vorbehalte gegenüber dem jahrgangsübergreifenden Lernen, kurz JÜL. Man muss ja den ganzen Unterricht umstellen, wenn man beim JÜL Erfolge erzielen will.

Scheinbar erkennen nicht alle Schulen darin einen Nutzen. Ist JÜL vielleicht nicht für alle gut?

Ich finde JÜL fantastisch. Es war die GEW, die den Modellversuch dazu in den 90er Jahren in Berlin angestoßen hat. Anders als die Senatsverwaltung sind wir aber der Auffassung, dass die Mischung drei und nicht nur zwei Jahrgänge umfassen muss. Wenn ich zwei Jahrgänge zusammenpacke, verlässt nach einem Jahr die Hälfte der Kinder die Klasse, eine neue Hälfte kommt dazu. Das gibt für die Lehrkräfte zu wenig Kontinuität. Die Kinder können dabei auch nicht die sozialen Kompetenzen erwerben, die sie in einer dreijährigen JÜL-Phase hätten. In einem Dreierjahrgang erleben Kinder unterschiedliche Rollen, sind erst Lehrling, dann Geselle und zum Schluss Meister. Das wirkt sich sehr positiv aus, es weckt Lernbegierde bei den Kleinen, wenn sie sehen, was die Großen alles können. Und die Großen sind stolz, wenn sie den Kleinen helfen können.

Viele der Schulen, die das dreijährige JÜL anbieten, sind sehr beliebt bei Eltern. Warum sperren sich andere Schulen so sehr gegen das jahrgangsübergreifende Lernen?

Weil die Menschen in diesen Schulen unsicher sind. Wichtig ist, dass möglichst ein ganzes Kollegium an einem Strang zieht. Die Schulen, bei denen es hervorragend klappt, haben JÜL meist aus eigenem Antrieb eingeführt.

Ist es also ein Fehler, Schulen JÜL überzustülpen, die es auf keinen Fall wollen?

Man muss den Schulen Zeit lassen. Wenn aber eine Schule das ganze Konzept für sich als falsch betrachtet, kann ich nur hoffen, dass dort irgendwann jüngere Lehrer neue Impulse setzen.

Kritiker bemängeln auch, dass immer mehr Kinder drei Jahre in der Schuleingangsphase verbringen. Ist das ein Zeichen für das Scheitern von JÜL?

Das ist kein Zeichen des Scheiterns, und es ist auch falsch, diese Kinder Sitzenbleiber zu nennen. JÜL ist ja gerade so angelegt, dass man diese Phase in einem Jahr, in zwei oder in drei Jahren durchlaufen kann. Wer als Überflieger in die Schule kommt, kann also nach einem Jahr schon in die dritte Klasse wechseln, wer zum Lernen ein bisschen länger braucht, hat drei Jahre Zeit und ist deshalb kein Sitzenbleiber.

Und dass die Zahl der Verweiler steigt, ist kein Hinweis darauf, dass die Lehrer das individuelle Fördern in der jahrgangsübergreifenden Gruppe vielleicht einfach nicht können?

Ich würde nicht sagen, dass es daran liegt. Ich habe aber große Bedenken gegenüber der Einschulung der Kinder mit fünfeinhalb Jahren. Für viele Kinder ist das zu früh. Sie brauchen dann eben auch länger, um sich auf den schulischen Tagesablauf einzustellen. Damit sind viele Kinder überfordert.