Von den Disteln lernen

„Die Handelsketten wollen anonyme Produzenten, um jederzeit die Lieferanten wechseln zu können“

AUS GOCHSEN PHILIPP MAUSSHARDT
UND CHRISTOPH PUESCHNER (FOTOS)

Vor zwei Wochen rief wieder der Sachbearbeiter vom Landwirtschaftsamt bei Walter Kress an. Herr Kress, sagte er, es liegt wieder eine anonyme Anzeige gegen Sie vor. Die Disteln, Sie wissen. Kress wusste. Die Disteln. Sie waren in seinem Winterweizen wieder einmal so hochgeschossen, dass sie über das Getreide hinauswuchsen und von der Kreisstraße K 2012 in Fahrtrichtung Gochsen gut zu sehen waren. Alle Bauern aus Gochsen, aber auch die aus Langenbrettach und Lampoldshausen mussten auf ihrem Weg nach Heilbronn an diesem „Schandfleck“ vorbei und ärgerten sich. So sieht doch kein Acker aus. Eine Sauerei ist das. Der verseucht noch die ganze Gegend mit seinen Disteln.

In Gochsen und Umgebung liebt man es sauber. Die Dörfer im schwäbischen Unterland wirken an jedem Tag so aufgeräumt, als würden die Bewohner gleich in Urlaub fahren. Die Straßen sind frisch geteert, die Vorgärten gerichtet, die blauen Gesangsbücher der evangelischen Landeskirche liegen griffbereit an den Garderoben. Staub, Unkraut und Teufel sind hier Synonyme. Es könnte alles so schön sein, wenn nicht am anderen Ufer des Kochers der Haaghof von diesem Spinner läge. Der so tut, als habe er die Weisheit gepachtet.

„An meinen Disteln“, sagt Kress „entzündet sich immer wieder ein Streit. Dabei geht es um etwas ganz anderes.“ Es ist morgens um sieben Uhr, Walter Kress sitzt mit seiner Familie um den runden Frühstückstisch. Gleich nehmen die vier Kinder die Fahrräder und radeln an ihrem vorletzten Schultag in die Schulen der umliegenden Dörfer. Kress’ Frau, die Hebamme Marlies Hofmann, wird ihre schwangeren Frauen anrufen und sich nach ihrem Zustand erkundigen. Aber noch liegt allen die Nacht ein wenig schwer auf den Schultern. „Noch ’n Kaffee?“, fragt Walter Kress. Auf dem Tisch steht Schokocreme von „Rapunzel“, der Apfelsaft stammt von „Streuobstwiesen des schwäbischen Unterlands“ und auch die H-Milch aus dem Tetrapack kommt aus der Biomolkerei. „Haaghof – zurück zu den Wurzeln“ steht an der Einfahrt auf einem Schild aus Edelstahl. Kress ist Biobauer. Vor 14 Jahren hat er den Aussiedlerhof von seinem Vater übernommen und bewirtschaftet ihn seither nach den Richtlinien des „Naturland“-Verbandes.

Zurück zu seinen eigenen Wurzeln führte auch der Weg von Walter Kress, heute 56, nachdem er zunächst den Hof verlassen und als Maschinenschlosser bei Audi im nahen Neckarsulm in die Lehre gegangen war. Später dann sogar Betriebsrat „beim Daimler“ wurde. Dann kam die Teststrecke für Hochgeschwindigkeitsfahrzeuge bei Boxberg in den 80er-Jahren. Mitten im besten Ackerland, fette Lössboden. Die Bauern aus Boxberg wurden zugunsten von Daimler zwangsenteignet. Da wusste Walter Kress auf einmal wieder, wohin er gehörte, zerstörte nachts einen Bauwagen und wurde dabei erwischt. Fristlose Kündigung bei Daimler, und Kress entwickelte in der Folge in der Garage die ersten Landmaschinen für den Ökoanbau. „Kress & Co.“ – die Firma existiert noch heute unter seinem Namen, auch wenn er schon lange nicht mehr Teilhaber ist. Kress ist wieder ganz unten am Boden, auf der Erde, dort, wo alles anfängt und alles aufhört.

„Astoria“ heißt die Sorte, die Kress nach dem Frühstück mit einem Kartoffel-Vollernter aus der fast schwarzen Erde schaufelt. Auf dem Same-Traktor zieht er zentimetergenau die Reihe hinunter bis zu den Mirabellenhecken, und Frau Marlies und Helferin Anja Reinemuth auf dem Hänger sortieren die Erdklumpen aus und werfen die wenigen Steine zurück auf den Acker. Astoria. Bestens geeignet für schwäbischen Kartoffelsalat. Festkochend und gelb wie die Post. Aber wer weiß das schon? „Sieglinde“, „Linda“, vielleicht noch „Nicola“ und „Selma“, dann hört die Kenntnis über die Kartoffel meist schon auf. Kress baut 15 verschiedene Sorten an. „Blauer Schwede“? Nie gehört.

Eine Reihe sind 300 Kilo, sind 150 Säckchen à zwei Kilo, mal 3,20 Euro. Um es abzukürzen: In zehn Minuten haben Walter, Marlies und Anja 480 Euro aus der Erde gezogen. Aber so kann nur ein Städter rechnen. Der nichts von Fruchtfolge weiß, von den Jahren, in denen auf dem Acker Klee oder Winterweizen wächst, um sich zu erholen. Und von der mühseligen Vorarbeit: pflügen, eggen, häufeln, setzen. Kress’ Nachbarn erhalten gerade einmal 90 Euro für die gleiche Menge Kartoffeln, obwohl deren Kartoffeln viel größer sind.

„Früher war ich ein echter Exot, heute ist Ökolandbau ja fast schon Standard“, sagt Kress. Der Markt verlangt es. Kress weiß von konventionellen Gemüsebauern, die von den Großhändlern gezwungen werden, Ökoware zu produzieren. Nach deutschen Richtlinien müssen sie dazu einen Zweigbetrieb eröffnen, Mischproduktionen unter einem Dach, halb konventionell, halb öko, sind hierzulande (noch) nicht gestattet. „Wenn die neben ihren herkömmlichen Karotten nicht auch Biokarotten liefern können, sind sie ganz schnell draußen“, sagt er. Da hat das Biosiegel der Bundesregierung einiges bewirkt, auch wenn Kress nicht viel davon hält. „Zu anonym, zu wenig kontrolliert.“ Die EU arbeitet daran, dass landwirtschaftliche Betriebe je nach Bedarf mit ihren Anbauflächen mal nach ökologischen, dann wieder nach konventionellen Methoden jonglieren können. „Ein großer Quatsch.“

Kress hat vor ein paar Jahren seinen Hofladen aufgegeben und einen modernen Biosupermarkt dort aufgemacht, wo die Kundschaft lebt. „Die wollten wegen ein paar Kilo Kartoffen und Gemüse nicht immer bis zu mir herausfahren.“ Jetzt liegt sein „Natur-Talent“-Markt in der Altstadt von Neckarsulm, nicht weit vom neuen Audi-Zentrum entfernt, und auch die zentrale Verwaltung von Lidl Europa ist gleich um die Ecke. Kress freut sich, dass er immer wieder Manager aus beiden Konzernen in seinem Laden sieht, und auch Familienmitglieder des Lidl-Gründers Dieter Schwarz bedient er sehr gerne. „Was bei Lidl gerade passiert, ist spannend“, findet Kress. Dass die mit Greenpeace kooperieren, fair gehandelter Kaffee seit Neuem in den Regalen steht. „Mal sehen, was uns da noch erwartet“, sagt er. Würde er denen seine Kartoffeln verkaufen?

Vor ein paar Jahren hat er Lidl angeboten, frischen Apfelsaft von den Obstbaumwiesen der Region ins Sortiment zu nehmen. „Die Einkäufer haben immer nur nach Preis und Menge gefragt, aber das ist eine politische Entscheidung, und die konnten sie nicht treffen.“ Die oberste Etage im Discounter war offenbar nicht interessiert. Jedenfalls bekam Kress auf seine Briefe keine Antworten. „Die Handelsketten wollen nicht, dass man erkennen kann, wer hinter den Produkten steht“, vermutet Kress. „Sie wollen anonyme Produzenten, um jederzeit die Lieferanten wechseln zu können. Das ist das Grundübel am neuen Bioboom der Supermärkte“, sagt Kress. Doch Bauern sollten nicht zu bloßen Rohstofflieferanten degradiert werden, findet er. „Sie sollen mit ihrem Namen dafür stehen, was sie tun.“

Es ist Mittagszeit, und weil seine Frau zu einer Geburt gerufen wurde, die Kinder aber schon aus der Schule zurück sind, stellt sich Walter Kress selbst an den Herd und brutzelt Bratkartoffeln mit Wildschweinwürstchen. Vor ein paar Jahren ist Kress der Slowfood-Bewegung beigetreten, heute sitzt er in deren Vorstand als einziger Lebensmittelproduzent. „Ohne uns Bauern kann man noch so gut kochen wollen. Die Erzeuger der Lebensmittel müssen wieder viel mehr ins Bewusstsein rücken.“ Einmal im Jahr macht Kress darum eine Kartoffelverkostung. Berufsköche und private Knollenfans beißen dann auf Bamberger Hörnchen gegen Linda, Augsburger Gold gegen La Ratte. Rund 2.000 verschiedene Sorten sind in der Kartoffel-Genbank Groß Lüsewitz in Mecklenburg archiviert. „Ein blaues Püree aus „Blauen Schweden“ mit etwas Olivenöl angerührt“ – Kress hat es vor ein paar Wochen im „Victoria“ in Bad Mergentheim probiert und will sich seither nicht mehr beruhigen über dieses Erlebnis.

Friedemann, elf Jahre alt, ist nicht sonderlich begeistert, dass er am Nachmittag beim Abpacken der Kartoffeln helfen soll. Aber auf einen Streit lässt er es nicht ankommen, zu viel steht auf dem Spiel. Walter Kress fährt zum ersten Mal in seinem Leben mit der ganzen Familie in den Urlaub, und da ist wenige Tage vor dem großen Ereignis Frieden angesagt. So steht auch Friedemann kurz darauf neben seiner Zwillingsschwester Valentina im Hof, vor sich zwei große Holzständer, gefüllt mit festkochenden Astoria; Juliane und Sophie tüten ein, Friedemann reicht weiter, Valentina wiegt zwei Kilo ab, Walter Kress nimmt den Tacker und tackert, Marlies trägt die fertigen Zwei-Kilo-Tüten in großen Körben ins Kühlhaus … Fließbandarbeit ohne Fließband.

„Die Disteln“, sagt Kress beim Tackern, „sind kein Unkraut. Sie zeigen an, was mit meinem Boden los ist. Ich lerne von ihnen, wie ich durch die Fruchtfolge den Boden regulieren kann.“ Er wird sie nicht vernichten, wie sie es tun, drüben, über dem Kocher, in den „Vollgasbetrieben“ mit ihrer Agrochemie. Sollen sie ihn anzeigen. Sollen sie ihn für verrückt halten. „Die Zukunft gehört dem Biolandbau“, sagt Kress. Dann schließt er ab und fährt in die Toskana.