Der Tote im Torf mit Elvis-Tattoo

REGIONALKRIMI Der schottische Autor Peter May macht einen Demenzkranken zur Hauptfigur

Die Lesenden haben das Privileg, an der Innenwelt des dementen Tormod teilzuhaben

Auf den Hebriden weiden nicht nur friedlich Schafe im frischen Atlantikwind. Auch auf der Schottland vorgelagerten Inselgruppe gibt es Kriminalität, Gewalt und zwischenmenschliches Chaos. Jedenfalls in den Büchern des schottischen Autors Peter May, der mit seiner Hebriden-Trilogie vorführt, dass auch ein Regionalkrimi eine ganz großartige Sache sein kann. Er muss nur großartig geschrieben sein.

Mit „Beim Leben deines Bruders“ ist soeben der zweite Band der Trilogie in deutscher Übersetzung erschienen. Darin kehrt Ex-Detective Fin Macleod, der nach einer Familientragödie den Polizeidienst in Edinburgh quittiert hat, auf seine Heimatinsel Lewis zurück, nur um dort umgehend in eine Ermittlung hineingezogen zu werden, die ihn mittelbar auch persönlich betrifft. Beim Torfstechen ist eine Moorleiche entdeckt worden, die, wie sich zeigt, keine zweitausend, sondern erst fünfzig Jahre alt ist und deren DNA eine überraschend starke Übereinstimmung mit derjenigen von Tormod Macdonald zeigt, dem Vater von Fins Exfreundin Marsaili und Großvater seines Sohnes. Der alte Tormod aber ist bereits so stark an Demenz erkrankt, dass er zur Ermittlung nicht nur nichts beizusteuern hat, sondern für Fin und Marsaili zu einer zusätzlichen Verpflichtung wird. Denn Tormods Frau Mary ist von seiner Pflege so überfordert und verbittert, dass sie ihren Mann ins Pflegeheim abschiebt und alle Spuren seiner Anwesenheit aus ihrer Wohnung tilgt.

„Beim Leben deines Bruders“ gerät auch deshalb so packend, weil es Peter May gelingt, die verschiedenen Schichten der Handlung miteinander zu verzahnen. Die allmähliche Aufklärung der eigentlichen Kriminalhandlung nimmt dabei vor den Augen der Lesenden viel eher Gestalt an, als dies für die Ermittler der Fall ist, da wir das exklusive Privileg haben, an der Innenwelt des dementen Tormod teilzuhaben. Es ist berührend – und sehr plausibel –, wie differenziert May dessen verschiedene Bewusstseinszustände darstellt; zum einen zeigt, wie ihm die Wahrnehmung und Einordnung von Personen und Situationen entgleitet, zum anderen aber vorführt, dass gleichzeitig der Speicher des Langzeitgedächtnisses absolut intakt geblieben sein kann.

In Tormods rückblickender Innenschau offenbart sich ein finsteres Kapitel der britischen Sozialgeschichte, das abermals den Umgang der katholischen Kirche mit Kindern betrifft. Tormod hatte einst einen Bruder, auf den aufzupassen er gelobt hatte. Die Antwort auf die Frage, wie es dazu kam, dass dieser Bruder schon in jungen Jahren als Leiche im Torf landete, lässt natürlich auf sich warten. Während die Vorgeschichte Stück für Stück in Tormods rückwärtsgewandtem Zeitfenster abläuft, ist Fin Macleod auf der Heute-Ebene damit beschäftigt, derselben Geschichte auf der Basis rudimentärer Indizien nachzuforschen und zugleich in seiner eigenen ungeklärten Familiensituation neue emotionale Möglichkeiten zu erproben.

Viel vom zwischenmenschlichen Spannungspotenzial wird auch am Ende von Peter Mays zweitem Hebriden-Roman ungelöst liegen bleiben. Dafür gelingt es dem Autor, Vergangenheit und Gegenwart in einer fulminanten finalen Handlungsvolte zu verzahnen. So wird die Geschichte, die den alten Tormod sein gesamtes bewusstes Leben lang verfolgt hat, zu einem beinahe glücklichen Ende geführt. Ob er selbst das merkt, bleibt offen.

KATHARINA GRANZIN

Peter May: „Beim Leben deines Bruders“. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Zsolnay Verlag, 336 Seiten, 17,90 Euro