: Brutal kurzer Prozess
TENNIS Die US Open sind das einzige Grand-Slam-Turnier, bei dem im entscheidenden Satz ein Tiebreak gespielt wird. Den hat vor 40 Jahren ein gewisser Jimmy van Alen erfunden
AUS NEW YORK DORIS HENKEL
Mehr als acht Wochen sind vergangen seit dem Ende des Spiels, und es beschäftigt Nicolas Mahut nach wie vor. Nicht nur, dass er davon träumt und sich manchmal in diesem Traum als Sieger sieht, auch der Körper hat sich noch nicht von der monströsen Anstrengung erholt. „Ich bin nach wie vor nicht fit“, sagte der Franzose in der vergangenen Woche, als er vergeblich versuchte, sich für die US Open zu qualifizieren. „Ich hätte länger Pause machen müssen.“ Pause nach den elf Stunden und fünf Minuten, die er in Wimbledon mit und gegen John Isner durchlebt hatte, und nach dem fünften Satz mit dem wahnwitzigen Resultat von 70:68.
Irgendwie steckt schon eine gewisse Ironie darin, dass Mahut ausgerechnet in New York an den Nachwirkungen der Traditionen Wimbledons scheiterte. Bei den US Open wird, im Gegensatz zu den anderen drei Grand-Slam-Turnieren, auch ein fünfter (oder bei den Frauen ein dritter) Satz beim Stand von 6:6 im Tiebreak entschieden, und das nun schon seit vierzig Jahren.
Ein gewisser Jimmy van Alen, Gründer der International Tennis Hall of Fame, überzeugte die Organisatoren der US Open nach mehreren Versuchen 1970, jene Version eines verkürzten Satzes einzuführen, die er mit einem Schiedsrichter und einem Historiker entwickelt hatte. In der ersten Version, die fünf Jahre lang eingesetzt wurde, war nach fünf gewonnenen Punkten Schluss, seit 1975 werden mindestens sieben Punkte zum Sieg gebraucht, bei zwei Punkten Abstand zum Gegner. Die Begeisterung über die Veränderung der überlieferten Regeln des Tennis hielt sich bei den Spielern anfangs in Grenzen, aber die New Yorker Zuschauer erwärmten sich schnell für das neue System und vor allem für den ultimativen Kick des Tiebreaks im fünften Satz.
Nirgendwo auf der Welt ist der Kick besser aufgehoben als in dieser Stadt; die Entscheidung über alles oder nichts innerhalb weniger Minuten mag den Leuten anderswo brutal vorkommen, hier sind sie verrückt nach solchen Sachen. Und es ist es nicht ohnehin viel brutaler, so wie Nicolas Mahut nach einer Ewigkeit von elf Stunden und fünf Minuten mit leeren Händen dazustehen, halb im Delirium und namenlos enttäuscht?
Es gab grandiose Tiebreaks im fünften Satz in diesen 40 Jahren. Wie jenen, den Veteran Jimmy Connors am Abend seines 39. Geburtstages mit einer Extradosis Adrenalin und Wahnsinn 1991 gegen den jungen Landsmann Aaron Krickstein gewann. Oder jenen fünf Jahre später, als sich Pete Sampras im Spiel gegen Alex Corretja übergeben musste, mit letzter Kraft einen Matchball abwehrte und kaum wusste, wie ihm geschah, als der bedauernswerte Spanier das Match mit einem Doppelfehler beendete.
Oft genug entsteht im Wissen um das nahe Ende eine atemlose Spannung wie kurz vor dem Erreichen einer Stromschnelle im reißenden Fluss. So wie vor fünf Jahren, als um ein Uhr in der Nacht der Tiebreak des fünften Satzes zwischen Andre Agassi und James Blake begann. Natürlich war das riesige Arthur-Ashe-Stadion um diese Zeit nicht mehr voll besetzt, aber in Erwartung des Showdowns sprangen die Leute von den Sitzen auf, jeder rief irgendwas, fuchtelte mit den Armen, und es war ein Wunder, dass die Wände des Stadions nicht wackelten bei diesem Lärm.
In diesen Momenten, in denen eine falsche Entscheidung alles zerstören kann, ist nichts so wichtig wie die Verbindung von heißem Herzen mit kühlem Kopf. Und ein Aufschlag, der auch unter größtem Druck funktioniert. Pete Sampras hatte so einen Aufschlag, und der war ihm eine große Hilfe beim Gewinn von insgesamt 328 Tiebreaks im Laufe seiner Karriere, davon einer im fünften Satz – ebenjener gegen Corretja.
Gemessen an der Prozentzahl der gewonnenen Tiebreaks gibt es allerdings einen Spieler, der erfolgreicher ist, ein gewisser Roger Federer. Der gewann zwei Drittel aller Tiebreaks seiner Karriere, aber noch keinen im fünften Satz. Beim ersten Auftritt im Rahmen des Turniers 2010 kam er nicht mal in die Nähe; gegen den Außenseiter Brian Dabul aus Argentinien gewann er 6:1, 6:4, 6:2, und wenn alle Tennisspiele so aussähen wie dieses, dann hätte sich Mister van Alen die Sache mit dem kurzen Prozess niemals ausgedacht.