Dickens beim Döner

Am Nebentisch gibt es das pralle Leben, und ein altes Bild entsteht neu

Wenn er von sexueller Nötigung sprach, klang es wie „Unser Urlaub war verregnet“

Unlängst habe ich für ein spätes erstes Frühstück in Nürnberg ein mediterranes Spezialitätenrestaurant aufgesucht, um den Tag bei Drehspieß im Fladenbrot „mit scharf und Knoblauch“ kulinarisch einzuläuten. Zwei Tische weiter, im hinteren Bereich der Gaststube saß ein Mann bei einem oder auch zwei Bierchen. Er wirkte auf den ersten Seitenblick ganz passabel und nett. Dunkle Haare, etwas untersetzt, gemütlich, aber nicht dick. Eine sehr angenehme Stimme, etwas nachdenklich, ein gepflegtes Bühnenbayerisch sprach er. Eindringlich, ohne zu brüllen oder nur laut zu werden. Jeder Lehrer würde ihn um diese Stimme beneiden. Er strahlte die professionelle Herzlichkeit von Menschen aus, die in der Tourismusbranche tätig sind. Mit jedem gleichmäßig gut Freund, aber wie’s drin ausschaut, „geht koan was aa“.

Die angenehme Stimme redete und redete und ließ ausgewählte Momente ihres Lebens Revue passieren, das sich, wie auch der diskreteste Esser lernen durfte, in den letzten zwanzig Jahren vor allem in bayerischen Justizvollzugsanstalten vollzogen hatte. Erst der ständige Ärger mit den Bullen, „damals war ich noch Punker“, dann kleinere Drogengeschichten, gefolgt von größeren Drogengeschichten. Eine Frau spielte dann auch eine Rolle, keine gute. „Dreieinhalb Jahre wegen dera Fotzn,“ sagte er und schüttelte gedankenverloren den Kopf. Nach einem tiefen Schluck ergänzt er. „Na ja, war ja auch eine sexuelle Nötigung.“

Es folgten kleinere Auszüge aus dem großen Buch „Erfolgreich überleben im Knast“. Tricks gegen Wärter und stänkernde Mitgefangene und ein Reservoir an blumigen Gesten, die verschiedene Formen der Körperverletzung zum Ausdruck brachten, stets zum Besten des Erzählers. Die Beiläufigkeit, mit der er das alles von sich gab, hatte etwas Irritierendes. Sexuelle Nötigung klang so wie: „Unser Urlaub war verregnet.“

Immerhin hatte er seine Strafen groß und klein verbüßt. Warum sollte er seine Geschichte nicht hier, als freies Subjekt unter freien Subjekten erzählen? Besser als in einer Talkshow, die „Der letzte Dreck“ oder „Das Elend anderer Leute“ heißt. An den Laternenpfählen in Berlin hängen in letzter Zeit immer öfter kleine Zettel: „Sie hatten ein beschissenes Leben? Wir bringen Sie ins Fernsehen!“, mit denen offenbar die Kopfgeldjäger, die sich Casting-Firmen nennen, Jagd auf kaputte Existenzen machen, um mit ihnen die Zeit zwischen Tampon- und Autowerbung zu füllen. Aber was heißt gescheiterte Existenz? Der nicht mehr ganz junge Mann hatte offenbar alles gut überstanden, weitere Begegnungen mit dem anderen Geschlecht verliefen günstiger.

Mit einer „Altn“ erlebte er etwas Besonderes. Sie hatte einen Sohn, der sich ein Fahrrad wünschte. Kein Problem, sagte er. „Simma eben zweimal mitnanda ins Bett gegangen.“ Und dann hat er dem Buben das Fahrrad, nein, nicht gekauft, er hat es ihm gestohlen, geladendiebstahlt, im Kaufhaus. Der ausführliche Bericht, wie er drei oder vier Kaufhausdetektive narrte, indem er seine Beute bei den Kundenfahrrädern am Eingang abstellte, bis sich die Aufmerksamkeit verzogen hatte, zeugte von großer Meisterschaft.

An seinen Lippen hingen während dieser Ausführungen zwei Männer ähnlichen Alters, offenbar vom Fach. Die Erläuterungen zum Gefängnis wurden jedes Mal kundig ergänzt. Und ein kleiner Junge hörte zu, vielleicht zehn Jahre alt. Was der sich wohl dachte dabei? „So will ich auch mal werden“ oder „So will ich nie werden“?

„Willst du dir was verdienen, kleiner Mann?“, fragte der Erzähler, und der Junge nickte. Er sollte zum Tresen gehen und dem Wirt sagen, dass der Herr in der Ecke drei kalte Jägermeister wünschte. Der Knabe tat’s und wurde hernach herangewunken. „Siehst du, jetzt hast du was für mich getan, jetzt hast du dir zwei Euro verdient.“ Sprach’s und gab dem Jungen eine Münze. Der Kleine aber stand brav stramm und streckte den Arm ganz weit aus, um das Geld in Empfang zu nehmen, geblendet von dem unverhofft hohen Betrag und jener Machtfülle, die ihm dieses Geschenk zu Teil werden ließ. Da entschuldigte sich der ehemalige Fahrraddieb, dass er ihn nur „kleiner Mann“ genannt habe, weil er den Namen nicht kenne, und gehorsam sagte der Vater, einer der Zuhörer, wie der Junge hieß.

Den „Oliver Twist“ habe ich vor Äonen einmal gelesen und fast alles vergessen. Aber exakt eine der Illustrationen in meiner Ausgabe sah genauso aus wie der kleine Junge, der so sorgfältig den Arm reckte, um etwas zu bekommen. In diesem Fall zwei Euro und das Gefühl, etwas Wichtiges vorbildlich erledigt zu haben.

Ich werde nie erfahren, was für diese zwei Euro noch alles gekauft wurde neben dem Satz „Drei kalte Jägermeister, bitte“, und eigentlich will ich es auch gar nicht wissen. Hätte ich den Jungen warnen sollen, den Mann daran hindern, den Vater ermahnen? Wovor, wozu? Wird schon schief gehen. Der Döner war ausgezeichnet, die Cola war kalt, und ein herrlicher Tag hatte gerade erst begonnen. ROB ALEF