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Archiv-Artikel

Faulende Herzen

Juri Andruchowytsch schickt in „Moscoviada“ einen Nachwuchsdichter in den Mief der zerfallenden Sowjetunion

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Die Welt hat sich verändert, was aber nicht heißt, sie wäre freudloser als zuvor. Ein schmutziges Zimmer im siebten Stock, die Nachbarn hören permanent laute Musik, zum Duschen geht es in den ranzigen Keller, wo man zuweilen einen von billigem Fusel und nationalistischem Gedöns besoffenen Dichter trifft. Oder man hat Sex mit einer Unbekannten. Ein Symbol des Vielvölkerstaates nach wie vor, dieses Gebäude, aufgepumpt mit Ideologien, angefüllt mit dem geistigen Schutthaufen der zusammengebrochenen Sowjetunion. Das ist der Beginn der Neunzigerjahre im Wohnheim des Gorki-Instituts, der sowjetischen Dichterschmiede.

„So ist das Leben in diesem verdammten Loch, genannt Literaturwohnheim, das sich das System zur eigenen Beruhigung ausgedacht hat, in diesem siebenstöckigen Labyrinth mitten in der schrecklichen Hauptstadt, im von Fäulnis befallenen Herzen des nur noch halb existenten Imperiums. Der russische Dichter Jeschewikin sagt zwar, dass ihn allein das Wort Imperium ganz high macht, aber alles Gute hat ein Ende, und du, Otto von F., spürst es im Mark, wie alle Nähte reißen, wie die Länder und Völker auseinanderstreben, jedes von der Bedeutung eines ganzen Kosmos oder Kontinents.“

Unruhige Zeiten, verwirrte Zeiten. Mittendrin Otto von F., Protagonist und nicht Ich-, sondern in der Tat manchmal neben sich stehender Du-Erzähler des Romans, Student aus der Westukraine und Alter Ego des Schriftstellers Juri Andruchowytsch, ebenfalls Westukrainer, ebenfalls Schüler des Gorki-Instituts, postmoderner Karpaten-Dichter, dieses Jahr Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung und seit Erscheinen der Übersetzung seines Romans „Zwölf Ringe“ hierzulande ein gefeierter Mann. Einer, der mit seinen Büchern eindrücklich darauf verweist, dass das Zentrum Europas sich nach Osten verschoben hat, und der in seinen literarischen Texten einen wilden Mix serviert aus folkloristischem Kitsch, Restbeständen des kommunistischen Imperiums und des alten Habsburg sowie des rasenden Kapitalismus, der den Osten überrollt.

„Moscoviada“ erschien im Original 1993. Das merkt man dem Text in seiner Wildheit an, das macht auch einen Teil des Charmes dieser manchmal unsortierten, vor Übermut, Wut und literarischen Zitaten nur so sprühenden Ideenwerkstatt aus. Eine Übergangszeit ist es, durch die Otto von F. sich schlägt, ein Zwischenreich, in dem am Ende die alten Gespenster einen grotesken Tanz aufführen. Aber der Reihe nach. Ein ganz normaler Morgen. Vier Nachwuchsdichter, darunter Otto von F., gehen frühstücken. Das heißt hier: Sie besorgen es sich kräftig in einer heruntergekommenen Spelunke, in der man das Bier aus Automaten zapfen muss. Wodka ist gerade knapp, also trinkt man zum Bier billigen Sprit. Irgendwo in der riesigen Stadt wird Otto von F. von einer Frau erwartet, auch mit einem Freund ist er verabredet; zudem will er, warum auch immer, noch ins Kaufhaus „Kinderwelt“, um Geschenke zu besorgen, für wen auch immer.

Als er nach dem äußerst ausgiebigen Alkoholfrühstück wieder auf der Straße steht, scheint der Tag schon gelaufen – er ist besoffen, klatschnass, der Husten wird schlimmer, das Fieber steigt. Doch das Stationendrama geht jetzt erst richtig los. Ottos Tag endet in den Eingeweiden der Stadt, in einer abstrusen Unter- und Parallelwelt, wo Riesenratten gezüchtet werden, Agenten das Sagen haben und Otto nach einer Verfolgungsjagd in einer geradezu orgiastischen prosowjetischen Feier landet und in einer Versammlung, auf der Genosse Lenin höchstpersönlich die Krone des russischen Reiches spazieren führt – gefertigt aus Pappmaché.

Eines kann man Andruchowytsch nicht nachsagen: dass er jemals eine nahe liegende Pointe auslassen würde. Auch darum dreht „Moscoviada“ hin und wieder ein wenig zu hoch, und ein wenig zu oft zitiert Otto von F. einen Schriftsteller namens Andruchowytsch: „Super Zeilen, verdammt!“ Das ist, Ironie hin oder her, albern und eitel. Spaß macht der Roman trotzdem. Es gibt mittlerweile Stimmen, die den Schriftsteller Andruchowytsch für ein ähnliches Phänomen wie Karel Gott, Ivan Rebroff oder Wladimir Kaminer halten; für einen Künstler von vermeintlich fragwürdiger Qualität also, der von seiner Exotik lebt und davon, dass er eine Marktlücke zum richtigen Zeitpunkt clever besetzt hat. Dem muss man dreierlei entgegenhalten: Erstens hat Andruchowytsch bei aller Clownerie ein ernsthaftes Anliegen, wie nicht zuletzt seine wütende Leipziger Dankesrede oder auch das 2006 verfasste Nachwort zu „Moscoviada“ dokumentieren. Zweitens ist bislang noch kein anderer Autor in Erscheinung getreten, der das, was Andruchowytsch macht, besser macht. Und drittens: Auch Karel Gott ist toll.

Juri Andruchowytsch: „Moscoviada“. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006, 224 Seiten, 22,80 Euro