„Das war der 11. September des Libanon“
Der Krieg Israels im Libanon hat auch die moderaten, säkularen Kräfte in den arabischen Gesellschaften radikalisiert. Und die Islamisten gestärkt. Frieden mit Israel war noch nie so fern, meint der jordanische Politologe Oraib Rantawi
taz: Herr Rantawi, die UN-Resolution 1701 wird in den USA, in Europa und Israel begrüßt und als Sieg der Diplomatie gefeiert. Was halten Sie von der Resolution?
Oraib Rantawi: Die Resolution ist durch und durch unausgewogen. Sie führt vieles von dem auf, was Israel zwar militärisch wollte, aber nicht erreicht hat. Und sie ignoriert vieles von dem, was Libanons Premier Fouad Seniora in seinem Sieben-Punkte-Programm genannt hat. Es dürfte daher sehr schwer sein, die Resolution umzusetzen.
Die Waffen schweigen erst seit ein paar Tagen – schon wird spekuliert, wer sich Sieger dieses Krieges nennen darf. Macht das Sinn?
Da es diese Debatte nun mal gibt, muss man sich mit ihr auseinandersetzen. Weder Israel noch die USA haben ihre Ziele erreicht. Israel wollte die Hisbollah entwaffnen, sie sogar auflösen, seine Soldaten sofort und bedingungslos befreien und mit dem Libanon neu beginnen. Und die US-Außenministerin Rice sprach gar von einem „Neuen Mittleren Osten“. De facto aber hat die Hisbollah auf dem Schlachtfeld unter Beweis gestellt, dass sie effektiv und couragiert kämpfen kann. So hat sie den Menschen in der arabischen Welt gezeigt: Widerstand gegen Israel ist noch immer und gerade heute wieder eine Option.
Soll die Hisbollah entwaffnet werden?
Die Frage muss anders lauten: Wer überhaupt wäre in der Lage, die Hisbollah zu entwaffnen? Solange die libanesischen Forderungen nicht erfüllt werden, ist es völlig absurd, wenn die USA eine Entwaffnung einklagen. Israel droht noch immer damit, alles zu tun, was ihm in den Sinn kommt. Es droht damit, die Führer der Hisbollah zu liquidieren, wann und wo auch immer es ihm beliebt; es hält noch immer die Schebaa-Farmen besetzt und es gibt noch immer keine Regelungen über den Austausch der Gefangenen. Ich glaube nicht, dass irgendwer in der arabischen Welt eine Entwaffnung der Hisbollah fordern wird.
Welche Möglichkeit bleibt?
Das Problem kann nur politisch gelöst werden. Und zwar von den Libanesen selbst. Die Entwaffnung kann nicht Sache der Unifil, der USA oder gar Israels sein. Sollte irgendwer trotzdem auf den Gedanken kommen, der Hisbollah gewaltsam die Waffen zu nehmen, so würde die libanesische Armee auseinanderbrechen. Denn mehr als 40 Prozent der Soldaten sind Schiiten.
Droht im Falle einer Entwaffnung ein Bürgerkrieg im Libanon?
Ja. Ein Bürgerkrieg und eine neue Intervention. Womöglich sieht Syrien da eine Chance. Damaskus träumt ja noch immer davon. Und Baschar al-Assad hat in seiner Rede am Dienstag genau so geklungen – als wolle er Syriens Rolle im Libanon restaurieren. Doch die Folge wäre, dass der Libanon abdriftete wie der Irak.
Hatte der Krieg zwischen Hisbollah und Israel eine neue „Qualität“?
Ich habe die letzten beiden Invasionen im Libanon miterlebt, 1987 und 1982. Diesmal war es anders – wegen dieses maßlosen massiven Tötens von Zivilisten und der kompletten Zerstörung ihrer Infrastruktur. Diese Aggressionen, diese Akte der puren Barbarei, haben es den Arabern unmöglich gemacht, in Israel heute noch so etwas wie einen Partner im Friedensprozess zu sehen. Und das betrifft nicht die Islamisten oder Extremisten. Nein, ich spreche von den Moderaten. Man muss nur in die Zeitung, ins Fernsehen schauen … All die, die heute vom völligen Kollaps des Friedensprozesses sprechen, haben sich einst für den Frieden eingesetzt. Und dafür oft genug einen hohen Preis gezahlt.
Hat sich Ihre Sicht auf den Nahen Osten durch diesen Krieg auch verändert?
Ja. Ich glaube nicht mehr, dass es Frieden mit Israel geben kann. Wir sind am Ende, nach 40 langen Jahren, in denen wir um einen Frieden gerungen haben. Und noch etwas steht fest: Die Islamisten werden kommen. Sie klopfen bereits an die Tore. Ihre Zeit hat begonnen.
Hat der Krieg auch die Haltung zum Westen verändert?
Wir haben immer davon geträumt, vom Westen unterstützt zu werden. Wir haben davon geträumt, dass er uns moderaten Kräften bei der Reformarbeit zur Seite steht. Und wir haben dabei unterschieden: Die USA waren gegen uns, wenn es um Israel ging. Und mit uns, wenn es um die Demokratie ging. Wir kämpfen heute noch immer für Demokratie und Menschenrechte. Doch wir sehen heute im Westen keinen Verbündeten mehr. Wobei ich jetzt von den Regierungen spreche, nicht von der Öffentlichkeit, den NGOs. Die USA, vor allem die USA, sind heute unsere Feinde. In beiden Bereichen.
Haben Sie keine Angst, wenn sich in den arabischen Gesellschaften selbst moderate Kräfte radikalisieren?
Ich glaube, nach diesem Krieg haben sich die Prioritäten vollständig verschoben. Für uns alle. Heute gibt es nur eines, was unsere Existenz, ja selbst unsere Zukunft bedroht. Und das ist Israel. Deshalb legen wir unsere Differenzen heute auf Eis. Auch ich habe keinerlei Probleme mehr damit, Hand in Hand mit den Islamisten auf die Straße zu gehen. Selbst mit ihnen zu kooperieren. Für mich ist das heute eine Option – nein, es ist die Option, die wir heute haben. Es ist genug. All dieses Gerede der arabischen Regime über den Islamismus, der die eigentliche Gefahr sein soll. Nein, die wirkliche Gefahr ist Israel. Oder sollen wir abwarten und zuschauen, wie Israel, sollte ein ähnlicher Fall eintreten wie im Libanon, seine Bomber losschickt und Stadtteile Ammans in Schutt und Asche legt? Es ist doch unvorstellbar, was da passiert ist … Wer kommt auf den Gedanken, wegen zweier entführter Soldaten ein ganzes Land anzugreifen? Wer kann auf einen solchen Gedanken kommen und ihn dann auch noch in die Tat umsetzen? Und wer kann heute noch einem Israeli die Hand geben? Und über so etwas wie Frieden reden. Es ist ein Witz. Ein zynischer Witz.
Also halten Sie diesen Krieg für eine Art „Wendepunkt“ in der Geschichte des Mittleren Ostens?
Ja. Der Libanonkrieg entspricht in seiner Bedeutung für den Mittleren Osten dem, was am 11. September in den USA passierte. Alles wird anders werden. Die Menschen werden ihre Haltung überdenken. Zum Krieg und zum Frieden, zu den Islamisten, den eigenen Regimen, zum Westen. Die Gesellschaften haben sich bereits radikalisiert. Ich denke, dass wir am Anfang einer neuen Ära stehen. Und diese Ära wird von den Islamisten bestimmt werden.
Welche Rolle spielt da der arabisch-israelische Konflikt? Ist er – wie oft behauptet wird – Kern des Problems, damit auch die Ursache für eine Radikalisierung der Gesellschaften?
So ist es. Doch es gibt weitere Ursachen. Die Amerikaner haben bereits im Irak Fehler gemacht. Und jetzt wollen sie die Fehler im Libanon wiederholen. Es sind immer wieder dieselben dummen Herangehensweisen, Strategien und Argumente. Das muss endlich aufhören. Und Amerika soll aufhören, seinen „Neuen Mittleren Osten“ auf den Leichen der libanesischen Kinder aufzubauen. Es wird diesen Neuen Mittleren Osten, von dem wir als gemäßigte Kräfte geträumt haben, nicht geben. Der Mittlere Osten, der jetzt kommt, wird noch extremistischer und gewalttätiger sein. Und das ist bereits heute abzusehen. INTERVIEW: SUSANNE EL KHAFIF