Am Rückzugsort ist auch nicht alles gut

THEATER In Hannover arbeitet die junge Kulturfiliale und trägt das Theater in die Stadt: Nach der Einkaufsmeile werden nun Schrebergärten zum Ort, um der Gesellschaft auf den Zahn zu fühlen

Wo liegt das Monströse im Gewöhnlichen? Wann gerät ein Mensch an den Punkt, an an dem der Alltag nicht mehr funktioniert?

VON JOHANNA SCHMELLER

An einem Augustnachmittag in der Kleingartensiedlung „Bornumer Holz“: Alle zehn Minuten rauscht eine Regionalbahn vorbei. Rechts und links erstrecken sich weitere Kolonien: kurz gemähte Rasenflächen, üppig behangene Apfelbäumchen, frisch gedeckte Datschendächer und hinter tausend Hecken keine Welt – zumindest keine sichtbaren Stadtausläufer mehr.

Vor dreißig Jahren hat Hans* hier eine Parzelle gepachtet, für 4.000 Mark (inzwischen liegen die Preise bundesweit bei bis zu 5.000 Euro). Eine Lehmann-Bahn, Spur 10, tuckert über 45 Meter Schienenlandschaft durch seinen Garten, vorbei am Goldfischteich und an einem selbst gebauten Leuchtturm. Die Figuren hat er weggeräumt, „hier wird in letzter Zeit viel randaliert“. Die Nachbarn verstünden sich gut, „sind ja alles Alte“. Anders sieht es mit den „Neuen“ aus, junge Familien, „Ausländer, viele Türken haben wir jetzt“, und dann, nur wenige Parzellen weiter: „Zack, waren die mit einem großen Lastwagen da und haben den ganzen Nachmittag mit den Kindern gespielt. Die werden sich schon noch vorstellen“, murmelt er. Sicher klingt er nicht.

In der Datsche im Nachbargarten hat die Kulturfiliale Quartier bezogen. Besucher bekommen einen Flyer in die Hand gedrückt, der nach Fernreisebüro aussieht: schwarze Palmenblätter vorm Sonnenuntergang. 14,99 Euro kostet die „Schrebergarten-Erlebnistour“, die die fiktive Firma GreenWorks ab dem 5. September durch die Siedlung anbieten wird. Der Start liegt allerdings vor dem Hannoveraner Staatsschauspiel, das damit seine Saison eröffnet.

Nachbar mit der Axt erschlagen

Eine Zeitungsmeldung lieferte der Kulturfiliale die Idee zum Projekt: Ein Rentner habe in einer Schrebergartensiedlung seine Nachbarn mit der Axt erschlagen. Nun werden die allgegenwärtigen Plastikgänse, der Stolz auf meterlange Riesenzucchini, Trauerfälle, die sich hier mitten in der Gemeinschaft abspielen, in einem Theaterabend zusammenfließen. Und dabei werden – wie beiläufig – die brutalen, manchmal menschenverachtenden Stigmatisierungsmechanismen innerhalb des Mikrokosmos Kleingartensiedlung angedeutet, die letztlich gerade aus der Sehnsucht entstehen, dem Druck der Gesamtgesellschaft zu entfliehen.

Aber kann man einen Ort, der längst so offensichtlich zum Klischee geworden ist wie der Schrebergarten, denn in der Kunst noch produktiv machen? „All unsere Projekte haben etwas mit Gesellschaft zu tun“, erklärt der Regisseur Marco Storman. Er hat die Kulturfiliale vor vier Jahren gemeinsam mit Philippe Goos ins Leben gerufen hat. Zum Zeitpunkt ihrer Begegnung war Storman noch Regieassistent, Goos Schauspielschüler, doch bald entstand der Plan, „dass wir unbedingt gemeinsam weitermachen müssen“. Für das aktuelle Projekt haben sie sich ein Team von zehn Schauspielern, Dramaturgen und Bühnenbildnern dazugeholt. Von Anfang an ging es ihnen nicht darum, Klischees zu zerlegen, sondern darum, beim Betrachter ein Nachdenken anzustoßen: Wo liegt hier das Monströse im Gewöhnlichen? Wann gerät ein Mensch an jenen Punkt, da das Alltägliche plötzlich nicht mehr funktioniert? „Wir wollen zeigen, wer die Menschen sind, die in diesem System nicht bestehen können.“

Im letzten Jahr inszenierte die Kulturfiliale in „Da ist nichts leer, alles voll Gewimmels“ den Tod eines jungen Mannes in einem Hochsitz, auch nach einem realen Vorbild. Ein junger Mann hatte sich – gequält von Jobverlust und einer Trennung – in einen Jägerstand zurückgezogen; seinen Freitod durch Nahrungsverweigerung dokumentierte er in Briefen. Die Kulturfiliale stellte ihren Hochsitz mitten in die Fußgängerzone: Einzeln stiegen die Besucher hinauf zu Philippe Goos, der ein langsames Verhungern mitten im Überfluss spielte. Der Hochsitz wurde für Schauspieler und Publikum zum Ort größter Intimität. Die Reaktionen reichten von Überzeugungsversuchen und narzisstischem Trotz ( Gut, ich gehe jetzt, aber ich habe mir hier nichts vorzuwerfen“) bis hin zu aufrichtigen Sterbehilfeversuchen („Haben Sie noch etwas zu sagen, um loslassen und gehen zu können?“). Nur selten sei die Spielsituation durchbrochen worden durch die touristenhafte Sensationslust einzelner Besucher. Das Projekt wurde mit dem Pro Visio Preis 2010 der Stiftung Kulturregion Hannover ausgezeichnet.

Seit mehreren Wochen verbringen Goos und Storman nun Zeit im Schrebergarten, um „das Phänomen Rückzugsort“ mit allen Facetten zu erfassen. Ein Nachbar züchtet kopfgroße Kohlrabis, eine Nachbarin rügt, dass herabgefallene Äpfel nicht aufgesammelt werden, manchmal schimpft einer über „die Ausländer“, aber „solange die hier keine Moschee bauen, ist ja alles gut“.

Entschleunigung und Sehnsucht

„Wir leben in einer Zeit, da der Druck immer größer wird“, meint Storman, „alles wird schneller. Es gibt eine ganze Industrie, die damit beschäftigt ist, uns entschleunigen zu wollen: Ihr müsst Wellness machen! Zum Yoga gehen! Drei Tage in Österreich wandern, dann seid ihr wieder frisch und tapfer!“ Schauspieler Philippe Goos spricht von einer „disparaten Sehnsuchtsgesellschaft“, die sich hier offenbare: „Ist nicht gerade der Yogakurs eine weitere Kostenrechnung, damit ich meine Effektivität im Alltag aufrechterhalten kann? Mal auftanken, zu sich selbst finden, eine eigene Identität entdecken ist da fast unmöglich.“ Im Schrebergarten suchten Menschen Möglichkeiten, Kreativität auszuleben; dabei „bestimmt aber letztlich die Gemeinschaft über den Einzelnen, was dazu führt, dass man sich argwöhnisch betrachtet. Hier blüht ein Mikrokosmos auf, der mit Freiheit nichts mehr zu tun hat.“

Und der Rückzugsort wird – früher oder später - zum Präsentierteller des eigenen Verfalls. „Aber genau in Hannover kann man noch einen Ort schaffen, wo die Augen wach werden. Wo so viele Hannoveraner einen Schrebergarten haben, packt man diese Stadt an ihrer Seele. „Im Unterschied zu Berlin gibt es diese Art von Theater hier noch nicht“, sagt Storman, der nach der Münchner Falckenbergschule bereits am Hamburger Thalia Theater, der Berliner Volksbühne und den Münchner Kammerspielen arbeitete, und lacht. „Für uns ist das super, weil wir Reaktionen provozieren.“

Manchmal dauern die Nachgespräche doppelt so lang wie die Produktionen. „Wenn Theater das noch schafft, dann sind wir im Kern angekommen. Deshalb müssen wir weitermachen: Weil man so viel näher an die Leute rankommt als im Schutz des Theatersaals.“ Ambitioniert klingt das. Die wollen was. Man wünscht, dass es gelingt.

*Name geändert

■ „Was der Mond rot aufgeht. Wie ein blutig Eisen“. Vom 5. bis 10. September 2010, Abfahrt um 18.30 Uhr am Schauspielhaus Hannover, Informationen: www.schauspielhannover.de