„Der Sieg nutzt der Hisbollah nicht“

„Die Hisbollah hat kein nationales Projekt. Sie steht an der Kreuzung der weltweiten revolutionären Straßen“

Interview Anne Françoise Weber

taz: Hat Ihrer Meinung nach die UN-Resolution 1701 wirklich das Ende des Krieges gebracht, oder fürchten Sie ein neues Aufflammen der Kampfhandlungen?

Abbas Beydoun: Ich weiß nicht. Die Resolution ist voller Mängel. Dennoch halte ich sie für gerecht, ausgewogen und pragmatisch. Ich glaube, bei der UNO hat man dieses Mal die libanesischen Forderungen berücksichtigt. Die Armee in den Süden zu schicken, den Staat dorthin zurückzubringen, zum Waffenstillstand von 1948 zurückzukehren, das sind für mich vorrangige und wichtige Punkte, um eine Art Frieden in der Region, aber auch im Libanon herzustellen. Denn am meisten Angst habe ich vor einem inneren Krieg …

einem neuen Bürgerkrieg?

So will ich das lieber nicht nennen. Es ist ja deutlich, dass das Land gespalten ist, in ein Kriegs- und ein Friedenslager. Die Mehrheit ist, trotz aller Unterschiede und Streitereien, im Friedenslager. Sie sagt ganz einfach, wir haben genug vom Krieg, wir haben 30 Jahre unseres Lebens in einem absurden, endlosen Krieg verschwendet.

War der Libanon vor dem Krieg also auf dem Weg zum Frieden mit Israel?

Das kann man so sehen. Wenn Israel wirklich ein Friedensprojekt hätte, dann hätte es Kontakte mit dem libanesischen Friedenslager knüpfen und die Situation richtig einschätzen müssen. Stattdessen hat es das ganze Land, die ganze Nation, den ganzen Staat angegriffen, die ganze libanesische Wirtschaft. Es hat alles zerstört. Das heißt ganz einfach, dass Israel der Hisbollah recht gegeben hat.

Und jetzt ist das Kriegslager stärker?

Das glaube ich nicht. Dieses Lager existiert, aber es hat keinen Zweck, kein Ziel, kein Projekt. Krieg um des Krieges willen – das bringt nichts, vor allem nicht im Libanon. Hier liegt das Problem der Hisbollah. Sie hat in gewissem Sinne gesiegt, zumindest symbolisch: Sonst rannten die Araber immer vor den Israelis davon; diesmal hat die Hisbollah Widerstand geleistet. Aber aus diesem symbolischen Sieg lässt sich nichts machen. Die von der Hisbollah akzeptierte UN-Resolution geht gegen sie. Ganz einfach, weil diese Resolution alles verwirklicht, was die Hisbollah in den letzten Jahren abgelehnt hat. Man wagte im vergangenen Jahr nicht einmal, im Libanon von einem Waffenstillstandsabkommen mit Israel zu reden, da man sonst als Verräter gelten konnte. Auch von der Stationierung der libanesischen Armee im Süden oder von der Rückkehr der staatlichen Autorität in das Gebiet konnte man nicht sprechen. Jetzt wird das alles vorgeschrieben, und die Hisbollah hat es akzeptiert, zumindest rhetorisch.

Wie sehr beeinflusst in diesen Tagen Teheran die Positionen der Hisbollah?

Die Hisbollah ist nicht nur ein Werkzeug des Iran. Sie ist eine revolutionäre Partei, der die Realität egal ist. Ich war früher revolutionärer Kommunist und habe für die Revolution gearbeitet – von der ich im Innersten wusste, dass sie nicht zu verwirklichen ist. Bei der Hisbollah scheint mir das ähnlich zu sein. Teheran ist heute für die Hisbollah, was früher Moskau für die Kommunisten war. Die Leute von der Hisbollah, die sehr tapfer und mutig sind, werden nicht bezahlt. Sie sind engagiert; sie sind Gottesnarren, sogar Hassan Nasrallah. Diese Partei ist nicht etwa ein Werkzeug des Iran, sondern sie nimmt die Macht als Werkzeug, die Politik als Werkzeug. Alle Parteien, vor allem die revolutionären, fordern mehr oder weniger die Macht. Nur die Hisbollah hat nichts mit dem Staat zu tun und lehnt die Macht ab.

Wieso sollte sie die Macht ablehnen – sie stellt immerhin zwei Minister in der libanesischen Regierung?

Ja, sie hat die Macht angenommen, um ihrer Kriegssache zu dienen. Die Macht ist aber kein Selbstzweck für sie. Sie ist die am besten organisierte Partei, sie hat viele Kader, sie hat die stärkste Unterstützung in ihrer Konfessionsgemeinschaft. Aber sie nützt diese Macht als Werkzeug. Sie hat nicht das Ziel, im Libanon eine islamisch-schiitische Regierung einzurichten. Im Gegensatz zum Beispiel zur Hamas, zur iranischen Hisbollah, zu den Muslimbrüdern, die alle ihre nationalen Projekte haben. Die Hisbollah steht stattdessen an der Kreuzung der weltweiten revolutionären Straßen.

Aber kann man eine Revolution ohne Waffen machen?

Da liegt das Problem. Für die Revolution braucht man Waffen. Für einen Schiiten ist es seine wichtigste Pflicht, Mudschaheddin zu sein, also sich in den Dienst Gottes zu stellen. Die Waffen abzugeben bedeutet also, seiner höchsten Pflicht nicht nachzukommen. Jetzt beschäftigt sich die Hisbollah mit dieser Problematik, das braucht viel Zeit, aber man wird irgendwann zu einem Ergebnis kommen.

Was für ein Ergebnis ist denn denkbar?

Gefährlich sind nicht die Waffen der Hisbollah, denn alle Libanesen haben ihre Waffen – auch die Teilnehmer des Bürgerkriegs wurden allenfalls symbolisch entwaffnet. Gefährlich ist ihr Gebrauch. Und jetzt wird die Hisbollah lange nachdenken, bevor sie eine militärische Operation gegen Israel beginnt. Im Süden ist es der Hisbollah nun nicht mehr erlaubt, ihre Waffen zu erheben. Sie bleiben im Versteck. Das ist ein guter erster Schritt.

Und Syrien? Präsident Baschar al-Assad hat die syrienkritische Regierungsmehrheit, die sogenannten Kräfte des 14. März, angegriffen. Will er sich wieder stärker im Libanon einmischen?

Das ist leeres Gerede. Die Tapferkeit der Hisbollah stellt in erster Linie die Feigheit der Syrer bloß, ihre Lügen. Assad hat mit seiner Rede am vergangenen Dienstag [sie führte zur Absage des Syrienbesuchs von Außenminister Frank-Walter Steinmeier; Anm. d. Red.] versucht, die ständigen Anschuldigungen gegen die „Kräfte des 14. März“ gegen sie zu wenden. Auffällig ist, dass die Hisbollah ihn zum ersten Mal kritisiert hat. Das heißt, auch ihr ist Syrien jetzt egal. Was tut Syrien schon für die Hisbollah? Die Hisbollah gibt Syrien Kraft, nicht umgekehrt. Iran, gut, das ist der Sieger – er finanziert, er ist das revolutionäre Zentrum, er liefert die Ideologie.

Was kann die Rolle Deutschlands in diesem Konflikt sein?

Ich glaube, dass die Deutschen die Ersten sind, die Druck auf die Israelis ausüben können. Sie sollten ihnen sagen, dass Israel es geschafft hat, mit den meisten Staaten in der Region Frieden zu schließen, und dass man darauf eine Politik des Friedens bauen muss.

Letzte Frage an den Schriftsteller Beydoun: Hat dieser sich bereits mit der Lage befasst?

Ich habe mehrere Texte geschrieben, darunter einer mit dem Titel: „Ein mögliches Gedicht über die Dahiya“. Die Dahiya [südliche Vorstadt Beiruts, mehrheitlich von Schiiten bewohnt; Anm. d. Red.] war für uns ein Durchgangsort. Alle Südlibanesen sind wie ich dorthin gegangen, um Leute zu besuchen, zum Essen oder zum Schlafen. Die Dahiya ist für uns der Ort einer zweiten Geburt, die ebenso wie die erste unglücklich war. Deswegen ist der schiitische Intellektuelle der radikalste von allen. Er trennt sich schon in seiner Jugend von seinem Milieu und beginnt seine Umwelt – die Dahiya – zu verabscheuen. Jetzt ist die Dahiya zerstört, tot. Da entsteht ein Schuldgefühl, weil wir sie nie geliebt, nie anerkannt haben – obwohl sie uns beherbergt hat, uns und unsere Vorfahren. Das habe ich geschrieben: „Wir haben unsere Mütter nicht geliebt, weil sie nicht schön sind. Es ist Zeit, unsere Mütter zu lieben, obwohl sie nicht schön sind.“