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All das sehen wir vor uns

Ergebnis eines groß angelegten Forschungsprojekts: Das Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms hat die dreibändige „Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1895–1945“ vorgelegt

von MADELEINE BERNSTORFF

„Krisenzeiten sind Treibhäuser des Dokumentarfilms“, schrieb der Publizist Klaus Kreimeier 1993. Der seit einigen Jahren zu beobachtende Boom von Dokumentarfilmen hat auch hierzulande einige Publikationen hervorgebracht, die dieses lange von Kritik und Theorie vernachlässigte Genre behandeln. Der Bedarf scheint groß zu sein. Das von Eva Hohenberger in der Reihe des europäischen Dokumentarfilminstituts 1998 herausgegebene erste deutschsprachige Buch mit einer Sammlung von Texten zur Dokumentarfilmtheorie ist vergriffen, in Berliner Bibliotheken oft auf Monate vorbestellt und harrt der Neuauflage.

Nun hat ein groß angelegtes Forschungsprojekt unter Federführung des Hauses des Dokumentarfilms in Stuttgart zur dreibändigen „Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1895–1945“ geführt. Das Dokumentarische wird darin beileibe nicht als feststehende Qualität beschrieben, sondern als Produkt eines vielfachen und andauernden Perspektivenwechsels. Filmstil, publizistische Intention und politische Positionen verändern sich, Ästhetisches und Weltanschauliches werden immer wieder neu verhandelt.

So verstand man zum Beispiel im Deutschland der Nazizeit Dokumentarfilm als Medium zur Dramatisierung der Wirklichkeit und wollte, wie es in dem Film „Die Kamera fährt mit“ (1936) über die Arbeit der Wochenschau gebieterisch tönt, „nicht mehr die Sensation, sondern die große Gestaltung des künstlerischen Erlebens unserer Zeit in den Vordergrund stellen.“ Deutsche Emigranten wie Richard Plaut und Hans Richter bezogen sich zeitgleich lieber auf Griersons oder Wertows Ansätze. Nach dem Krieg lernte man in der DDR vom sowjetischen Dokumentarfilm und forschte hauptsächlich über den proletarischen Film. In Westdeutschland hingegen hoffte man „nach dieser Zeit hoffnungsloser Irrwege“ mit Griersons Definition des Dokumentarischen als „kreativem Umgang mit der aktuellen Wirklichkeit“ wieder „ein vollwertiges Mitglied der europäischen Völkerfamilie“ werden zu können.

Schon vor der Erfindung des Kinos gab es die „lebenden Fotografien“, Ottomar Anschütz' Schnellseherautomaten und außerdem in vielen bürgerlichen Haushalten Apparate, um stereoskopische Aufnahmen von Naturansichten und Sehenswürdigkeiten zu betrachten. Der Cinematographe Lumière war ursprünglich für den mobilen Einsatz in den Händen von Amateurfotografen gedacht, Louis Lumière drehte ein paar „Films“ (so hießen sie in Deutschland bis in die zwanziger Jahre) von seiner Familie und unter freiem Himmel als Demonstrationsbeispiele für das neue Gerät. Der Publikumserfolg dieser Vorführungen war jedoch so überwältigend, dass er diese Auswertungsstrategie fallen ließ und ein internationales Vertriebssystem mit firmeneigenen Vorführern aufbaute.

In damaligen Zeitschriftenartikeln – etwa in einer Ausgabe des Kölner Tageblatts von 1896 – spürt man die Begeisterung für die dokumentarischen Möglichkeiten des neuen Mediums: „All das sehen wir vor uns, greifbar nahe in unnachahmlicher Natürlichkeit. Da ist nichts vorbereitete, auf den Effekt berechnete Stellung, sondern alles ungeschminkte Wirklichkeit, auf der photographischen Platte in jedem Stadium der Bewegung aufgefangen und ebenso getreu wiedergegeben.“ In der Vossischen Zeitung freute man sich schon 1895 über „eine Reihe von Bildern, worin Meereswellen, Dampf- und Staubwolken eine große Rolle spielen – aber die regellose durch tausend einzelne Sinneswahrnehmungen fortwährend veränderte Aktion eines lebhaften Menschen, wie sie uns viele dieser Bilder zeigen, ist für uns nothwendig mit dem Begriff selbständigen Lebens verknüpft.“

In dem Band zur Weimarer Republik werden neben den ersten theoretischen Ansätzen der Avantgarde zum Dokumentarfilm die verschiedenen Kulturfilmgenres ausführlich untersucht. So geht es um Körpertopografien in Kultur- und Lehrfilmen, in denen Körper ausgestellt und quantitativ vermessen werden, um die Abweichung von der Norm festzustellen. Ein Kapitel zum Kolonialfilm beschreibt, wie nach Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Verlust aller Kolonien nun die Filme für die Rückeroberung der Kolonien sensibilisieren sollten. Zu der Erinnerung an die ehemaligen Kolonien gehörte dabei auch das immer wieder auftauchende Motiv der vermeintlichen Liebe der Einheimischen zu den deutschen Kolonialherren. 1927 gelang es der Kommunistischen Partei, dass in dem Film „Heia Safari“ die Szene, in der die deutsche Fahne auf dem Kilimandscharo gehisst wird, entfernt werden musste.

Ein anderer Text widmet sich den Tierfilmen. Das Bedürfnis war groß, mit dem Blick auf die Tiere etwas über den eigenen Ursprung zu erfahren und sie als willenlose Metaphern für Gesellschaftsmodelle zu missbrauchen oder – wie in Deutschland nach 1933 – gesellschaftliche Ungleichheiten auf Darwins „grausamen Kampf ums Dasein“ zurückzuführen.

Das Haus des Dokumentarfilms organisierte für die Edition der Bände die zentrale Koordination mit regelmäßigen Arbeitskonferenzen und verschiedenen Projektleitern. Es wurden mehr als tausend Filme gesichtet. Demnächst sollen die in den drei Bänden besprochenen Filme in Kopie im Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart gesammelt werden und in der dortigen Präsenzvideothek für Dokumentarfilme einsehbar sein. Wunschtraum der Projektbeteiligten wäre zudem eine DVD-Edition mit den behandelten Filmen gewesen. Der Ansatz des Projektes, Filme aus einer der Öffentlichkeit kaum bekannten Dokumentarfilmzeit sichtbar und zugänglich zu machen, konnte jedoch wegen schwindelerregender Forderungen des Rechteinhabers Transit vorerst nicht verwirklicht werden.

„Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland“. Hrsg. v. Peter Zimmermann im Auftrag des Hauses des Dokumentarfilms Stuttgart. Reclam, Ditzingen, 3 Bde., 2.120 Seiten, zahlreiche Abb., 198 €

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