: Leben nach dem Überleben
Nicht nur NRW ist 60: Der Vorläufer der „Jüdischen Allgemeinen“ wurde 1946 in Düsseldorf gegründet, um den schwierigen Neuanfang jüdischen Lebens nach der Shoa zu begleiten. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinden Nordrhein erinnert sich
VON LUTZ DEBUS
Herbert Rubinstein hält seine Hände gefaltet vor sich. Seine Augen lächeln. Immer. Auch wenn das, was er sagt, bitter, wütend oder traurig klingt. Die Augen lächeln. Nein, die Geschichte der Juden in Nordrhein-Westfalen könne er nicht von Anfang an erzählen. Man könne das ja alles nachlesen.
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein sitzt in seinem Besprechungszimmer in der Zietenstraße in Düsseldorf. Hinter ihm im Bücherregal steht ein siebenarmiger Leuchter, die traditionelle Menora. Der heute Siebzigjährige ist erst 1956 nach Deutschland gekommen. Geboren ist er in der Bukowina, einer früher auch von vielen Deutschen bewohnten Provinz, die bis 1918 zur KuK-Monarchie gehörte und heute in Rumänien sowie der Ukraine liegt. Nach dem Krieg war Rubinstein mit einem befreundeten KZ-Überlebenden nach Amsterdam gekommen. Dort machte er eine Lehre als Nonferrokaufmann. „Nonferro ist Metall, das nicht rostet“, erklärt er geduldig. Rubinsteins Vater überredete ihn, nach Düsseldorf zu ziehen. Der damals 20-Jährige sollte im Familienbetrieb, einer Damengürtelfabrik, arbeiten. Aber Deutschland – war das nicht das Land der Teufel? Er kam trotzdem und merkte schnell, dass dem nicht ganz so war. Schnell schloss Rubinstein auch Freundschaften mit Nichtjuden. „Meine Geschichte ist nicht typisch, aber vielleicht deshalb wieder typisch für deutsche Juden.“
Bleibt also noch nachzulesen, wie die Geschichte der Jüdischen Gemeinden im Jahre 1945 im Westen begann. Am 29. April, also noch vor Kriegsende, versammelten sich 80 Juden in der Ruine der Synagoge Roonstraße im schon befreiten Köln. Die meisten hatten die Nazizeit in Verstecken überlebt. Nach einem Gottesdienst gründeten sie die erste Jüdische Gemeinde nach dem Ende des Nationalsozialismus auf dem Gebiet des jetzigen Nordrhein-Westfalen. In den folgenden Monaten erreichten immer mehr Shoa-Überlebende ihre Heimatstädte. Der damalige Bürgermeister von Köln, Konrad Adenauer, schickte städtische Omnibusse nach Buchenwald, Dachau und Theresienstadt, um die aus der Domstadt stammenden ehemaligen KZ-Häftlinge zurück zu holen. Ab 1946 kamen dann vermehrt überlebende Juden aus den verschiedenen Exilländern zurück nach Deutschland. Aber trotzdem ging die Zahl der Gemeindemitglieder vielerorts weiter zurück. Denn gerade viele der jüngeren Juden konnten sich ein Leben im Land der Täter nicht mehr vorstellen und emigrierten – zum Teil in den 1948 gegründeten Staat Israel, zum Teil nach Übersee. Die Gemeinden überalterten. Internationale jüdische Organisationen riefen dazu auf, Deutschland zu verlassen. Auf einem Friedhof könne kein Mensch wohnen, hieß es. Tatsächlich fühlten sich viele der hier wohnenden Juden, als lebten sie auf gepackten Koffern. Man könne ja jederzeit gehen, sagten damals die verbleibenden Gemeindemitglieder. Der Fortbestand jüdischen Lebens in Deutschland war in den ersten Nachkriegsjahren mehr als fraglich. Neben vielem anderen fehlte eine gemeinsame Diskussionsplattform.
Die wurde am 15. April 1946 ins Leben gerufen. An diesem Tag erschien die erste Ausgabe des Jüdischen Gemeindeblattes für die Nord-Rheinprovinz und Westfalen. Zunächst nur eine regionale Zeitung, wurde sie unter dem Namen Allgemeine jüdische Wochenzeitung in den folgenden Jahren die Zeitung der Juden in Deutschland. Inzwischen hat die Jüdische Allgemeine eine Auflage von 25.000 Exemplaren. An die Anfänge erinnert sich der Kölner Publizist Ralph Giordano in der Ausgabe der Jüdischen Allgemeinen vom 6. November 2003: „Aber welch improvisierte Arbeitsbedingungen seinerzeit! Ich sehe noch die düsteren Redaktionsräume in Düsseldorf-Benrath Ende der 1940er Jahre vor mir. Gleich neben der Druckerei, in der es immer nach heißem Blei roch.“
Der „Chef im Hinterzimmer“, an den sich Giordano in dem Artikel erinnert, war der Gründer und langjährige Herausgeber Karl Marx. Über den schwierigen Neuanfang der Juden in Deutschland nach 1945 schrieb Marx im Jüdischen Gemeindeblatt: „Man überließ die Juden nach der Befreiung ihrem Schicksal. Die Alliierten hielten es für ihre selbstverständliche Pflicht, ihre Landsleute auf dem schnellsten Weg aus den Konzentrationslagern zu nehmen und sie heimzuführen. Die deutschen Juden mussten ihren Weg nach Hause alleine antreten. Die einzige Hilfe, die ihnen gegeben wurde, war die Hilfe, die diejenigen Juden brachten, die sich in den letzten Jahren des nationalsozialistischen Regimes versteckt halten konnten. [...] Aber es bildete sich keine Gruppe in Deutschland, die sich mit der Frage beschäftigte, wovon diese Menschen, denen der Nationalsozialismus alles genommen hat, sich ihr Heim einrichten oder sich wieder eine Existenz schaffen konnten.“ Marx wollte mit der Zeitung jüdisches Leben in Deutschland erhalten und erweitern. Er verstand sich als „deutscher Demokrat jüdischen Glaubens“ und wollte in Deutschland bleiben. Immer begleitete die Allgemeine kritisch das politische Leben in der Bundesrepublik. Besonders sensibel reagiert sie auch heute auf neonazistische Tendenzen. Das Verhältnis zu Israel ist weitgehend unkritisch.
Auch Herbert Rubinstein kann natürlich etwas zu der weiteren Geschichte der jüdischen Gemeinde beitragen. Warum es in NRW mit dem Westfälischen und Nordrheinischen Landesverband und der Kölner Synagogengemeinde drei überregionale Vereinigungen jüdischer Gemeinden geben müsse? Wieder lächelt Rubinstein. Die Trennung zwischen Westfalen und Rheinländern gebe es ja auch bei der evangelischen Kirche. Das Verhältnis zwischen der Kölner und der Düsseldorfer Gemeinde aber sei nicht immer harmonisch gewesen. Die Kölner waren traditionsbewusst, die Düsseldorfer eher liberal. Rubinstein nennt die Stichworte „Alaaf“ und „Helau“. Ein überflüssiger Streit. Paul Spiegel sei es irgendwann einmal zu bunt geworden. Er habe gesagt: „Sind wir denn hier im Kindergarten?“ Seit jenem Machtwort haben die beiden Gemeinden Frieden geschlossen. Lieber erzählt Rubinstein von den Leistungen der vergangenen Jahrzehnte. Vor 1989 schien es, als wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis Gemeinden zusammengelegt werden müssten. Dann aber kam der Zusammenbruch der UdSSR und damit eine Auswanderungswelle in Richtung Deutschland. 1989 gab es in NRW nur 5.500 Juden, inzwischen sind es 30.000. Hier hätten die Jüdischen Gemeinden eine vorbildliche Integrationsarbeit geleistet, findet Rubinstein.
Das Verhältnis zu den Landespolitikern war im Laufe der Zeit unterschiedlich. Sehr gut habe man sich mit Ministerpräsident Heinz Kühn verstanden. In seinem Kabinett war auch ein Mitglied der Düsseldorfer Jüdischen Gemeinde, der Justizminister Josef Neuberger. Zu Johannes Rau war die Beziehung freundschaftlich. „Ohne Rau gäbe es jetzt nicht die 30.000 Juden in NRW.“ Als Ministerpräsident habe jener sich für die Anerkennung der jüdischen Gemeinden als Religionsgemeinschaft eingesetzt, das Kirchensteuerrecht auch auf Menschen jüdischen Glaubens ausgeweitet, den Bau von Synagogen, Gemeindezentren und Schulen ermöglicht, sich für den Jugendaustausch zwischen der BRD und Israel eingesetzt.
Ein anderer verstorbener Landespolitiker genießt bei Herbert Rubinstein nicht so eine Hochachtung. „Viele behaupten ja, Möllemann sei kein Antisemit gewesen, sondern wollte sich nur profilieren.“ Woher der frühere NRW-FDP-Chef letztlich das Geld für die umstrittene Flugblattaktion im Jahr 2002 bekommen habe, könne Rubinstein nur vermuten. „Die FDP wird auch finanziert von Leuten, die sich nicht trauen, die NPD zu unterstützen.“
Was wünscht sich Herbert Rubinstein für die Zukunft? „Gern würde ich einmal so unproblematisch in die Synagoge gehen wie die Christen in die Kirche.“ Seit einem Brandanschlag im Jahre 2000 steht Tag und Nacht ein Polizeiwagen vor dem Fenster und bewacht das jüdische Gemeindezentrum in Düsseldorf.