Sie leben und sind doch tot
Videoüberwachung hat noch kein Verbrechen verhindern können, trotzdem wird allerorten ihre Ausweitung gefordert. Worin liegt die Faszination der Überwachungsbilder?
Wie konnte ein Bild, das der Beweis für das Versagen der Technik ist, das Verlangen nach mehr Überwachung auslösen?
VON DIETMAR KAMMERER
An klaren Aussagen mangelt es in der aktuellen Sicherheitsdebatte merklich. Die Geheimdienste tun das, was sie wegen der Konspiration ohnehin tun müssen, sie tappen im Dunkeln, und man weiß nicht, sind sie nun einfach ahnungslos oder aus Bedacht schweigsam. Wer nicht schweigt, gilt sofort als so genannter Experte. „Ein festes Bild von der Gefahr hat man nicht“, weiß etwa der Journalist Hans Leyendecker im Radiointerview. Recht hat er. Dafür haben wir ja stattdessen die Videobilder, die neuen Lieblinge der Nation. Ob schwarz, ob grün, ob Datenschutzbeauftragter oder Chef des Bundeskriminalamts (BKA): Alle finden angesichts der „völlig neuen Herausforderungen“ eine Ausweitung der Videoüberwachung „sinnvoll“, „dringend geboten“ oder leider „unumgänglich“. Zwar vergisst keiner, hinzuzufügen, dass alles mit dem gebotenen Augenmaß zu geschehen habe und Kameras „kein Allheilmittel“ seien. Mit dieser Kreide im Mund reden Polizisten und Politiker jedoch schon seit knapp zehn Jahren, und dennoch steigt die Anzahl der überwachten Orte unaufhörlich. Was heute noch als maßvoll gilt, kann schon morgen als zu zögerlich und nicht radikal genug abgekanzelt werden.
Allerdings: Bahnhöfe gehören schon heute zu den bestüberwachten Räumen. Über mehr Kameras als die Deutsche Bahn verfügt keiner, und alle können sie von der Berliner Leitstelle aus gesichtet werden. Nimmt man noch die elektronischen Augen in Banken, Tankstellen, Kaufhäusern, an Autobahnbrücken und Regierungsgebäuden, in Bussen, Bahnen und sonstwo hinzu, kommt man auf schätzungsweise eine Million Kameras im öffentlich zugänglichen Bereich. Genaues weiß nur auch hier niemand, weil es keine Meldepflicht gibt.
Fest steht allerdings, dass täglich mehrere Millionen Bilder gespeichert und wieder gelöscht werden, ohne dass sie je ein menschliches Auge betrachtet hätte. Videoüberwachung dient hauptsächlich der visuellen Abfallproduktion. Nur eine Hand voll Bilder sind durch mediale Reproduktion berühmt geworden: Diana, die das Hotel Ritz verlässt. Mohammed Atta am Check-in des Flughafens von Portland. Dank der Aufnahmen weiß man wenigstens, dass die Attentäter die Sicherheitskontrollen um exakt 5.45 Uhr überlistet haben. Der zweijährige James Bulger, der an der Hand seiner beiden Mörder das Einkaufszentrum bei Liverpool verlässt. Einen Tag später wird er an einem Bahndamm tot aufgefunden werden, erschlagen von Tätern, die selbst fast noch Kinder waren. In Großbritannien ist die Bulger-Aufnahme vom 12. Februar 1993 die Ikone der Videoüberwachung. Wochenlang wurde sie über alle Sender verbreitet. Nach der Tat war es nicht mehr möglich, gegen Videoüberwachung zu argumentieren, ohne als Sympathisant von Kindsmördern zu gelten. In den folgenden Jahren legte die britische Regierung ein beispielloses Finanzierungsprogramm für öffentliche Videoüberwachung auf.
Der Widersinn könnte augenfälliger nicht sein: Wie konnte ein Bild, das eigentlich den Beweis für das völlige Versagen der Technik darstellte – unter den Augen von Dutzenden Sicherheitskameras wurde ein Kind entführt – im Gegenteil das Verlangen nach noch mehr Überwachung auslösen? Diana, Atta, Bulger: Warum sehen wir uns diese Aufnahmen immer und immer wieder an? Was diesen Szenen gemeinsam ist, sind die Schwellenräume – Ausgänge, Schleusen, Drehtüren – und Menschen, die hinübergehen. Auch auf den Videos, die das BKA zur Fahndung nach den verhinderten Kofferbombern veröffentlicht hat, fahren die zwei Verdächtigen im Kölner Hauptbahnhof erst die Rolltreppe hinauf, dann steigen sie in die Züge ein. Die Londoner Selbstmordbomber vom 7. Juli sehen wir im Augenblick des Betretens des Bahnhofes von Luton. Der räumliche Übergang ist hier zugleich ein existenzieller: Wir schauen Menschen zu, die noch leben und doch bereits tot sind. Roland Barthes hat nach der Betrachtung der Aufnahme eines zum Tode Verurteilten geschrieben, jede Fotografie besitze „die Faszination einer Katastrophe, die bereits stattgefunden hat.“ Das Schreckliche ist bereits geschehen und wir sehen, dass es im nächsten Moment geschehen wird.
Die Schwellen weisen jedoch in beide Richtungen. Überwachungsbilder führen uns nicht nur unsere Hilflosigkeit angesichts des Unvermeidbaren vor, sie suggerieren auch Handlungsfähigkeit. Das ist ihre phantasmatische Seite. Die Bilder bewahren den Augenblick, da das Ereignis noch nicht eingetreten ist. Man möchte „Halt!“ in die Szene hineinrufen, eingreifen, hineinspringen. Dem Täter das Messer aus der Hand schlagen, die Bombe entschärfen. Also genau das tun, was die Kameras selbst nicht vermochten. (Denen verdanken wir nur die Abschiedsfotos von Selbstmordattentätern, einen letzten Gruß an die entsetzte Nachwelt.) Im Bild wird die Welt verfügbar, wird Unübersichtliches auf ein überschaubares Format gebracht. Das Phänomen ist nicht neu. Im 19. Jahrhundert wurde die neue Praxis der Verbrecherfotografie, wie die Kriminalhistorikerin Susanne Regener nachgewiesen hat, auf dem Glauben begründet, durch standardisierte Bildproduktion die verbrecherische Wirklichkeit in den Griff zu kriegen, den Schurken sozusagen im Bild am Kragen zu packen.
Die Kulturindustrie tut ihr Übriges, um uns die Bilder des Überwachtwerdens ans Herz zu legen. War die Spitzeltechnologie in den 1970er-Jahren noch Anlass für Schreckensszenarien – etwa in Francis Coppolas „Der Dialog“ –, so wandelte sich ab Mitte der 1990er-Jahre die popkulturelle Erzählung von der Kontrolle. Plötzlich war auf allen Kanälen Reality-TV angesagt und „Big Brother“ nicht mehr Synonym für diktatorische Herrschaft, sondern für neue Entwicklungen des Fernsehentertainments.
Auch im Kino erlebte das Thema eine Renaissance unter neuen Vorzeichen. In „Staatsfeind Nr. 1“ wurden Will Smith und Gene Hackman von durchgeknallten NSA-Agenten gejagt, die Unmengen von Hightech-Bombast gegen die beiden auffuhren, gegen Hackmans Chipstüten-Tricks aber letztendlich erfolglos blieben. „Minority Report“ von Steven Spielberg führte uns ein Sci-Fi-Szenario der Totalüberwachung vor, inklusive sprechender Werbeplakate. In der „Truman Show“ schließlich verschmolzen die Spaß- und die Überwachungsgesellschaft zur Ununterscheidbarkeit.
Im selben Maße, wie diese Filme Paranoia induzierten, spielten sie mit den Schauwerten ihrer Szenarien. Überwachung wurde zum genießbaren Spektakel: Staunt, wie toll unsere Technik funktioniert. Seht, wie sie glänzt. Sogar Werbekampagnen für Parfum wurden damals in grobkörniger Videoästhetik gestaltet. Diese Glamourphase der Kontrollgesellschaft ist bereits wieder am Abklingen. Nach 9/11 ist Videoüberwachung mondän geworden, geradezu gewöhnlich. Heute ist sie Teil der Infrastruktur der Städte – so selbstverständlich wie Gas, Wasser oder Elektrizität. Die neue Generation des Überwachungsfilms sieht deswegen auch aus wie der Thriller „Freeze Frame“ von John Simpson: schmutzig und grau. Zudem ist es hier ausgerechnet die freiwillige Selbstüberwachung, die die Haut des Helden rettet. In „Red Road“ von Andrea Arnold, der dieses Jahr in Cannes lief, darf sich das Publikum gar mit der Angestellten einer CCTV-Zentrale (und ihren Rachegelüsten) identifizieren.
Die Vergewöhnlichung der Überwachungsbilder in der Popkultur geschieht just zu einem Zeitpunkt, da immer deutlicher wird, dass visuelle Überwachung eine für polizeiliche Zwecke eigentlich viel zu aufwändige Technik darstellt. Zumindest für ein Massenscreening ist sie ziemlich ungeeignet, da notwendig mehr Bilder produziert werden, als je von Menschen ausgewertet werden können. Daher die angestrengten Versuche der Delegation dieser Aufgabe an die Rechner: Gesichter, Nummernschilder, Banküberfälle, alles soll von den Kameras demnächst von selbst erkannt werden. Auch herumstehende Koffer können von automatischen Augen entdeckt werden.
In London sind entsprechende Systeme an manchen U-Bahn-Stationen bereits im Einsatz. Clemens Binninger (CDU) wünscht sich hierzulande überall solche „Frühwarnsysteme“. Offensichtlich liest der Mann keine Zeitung, sonst hätte er mitbekommen, dass seit dem 31. Juli dutzende von Bahnhöfen durch Fehlalarme lahmgelegt worden sind, weil immer irgendwo ein vergessenes Gepäckstück mit Schmutzwäsche herumsteht. Wer da noch automatisierte Systeme einsetzen will, um wirklich jeden Koffer zu erwischen, kann gleich verlangen, den Bahnverkehr einzustellen. Vielleicht wäre es alles in allem doch keine so schlechte Idee, die Sicherheitsdebatte ganz an „intelligente“ Kameras abzugeben. Sollen sich doch die Maschinen von den Überwachungsbildern verhexen lassen.