: Eins zu neunzehn
DIAGNOSE Gentests an Schwangeren werden selbstverständlich. Doch was darf man über Ungeborene erfahren? Wie geht eine Frau mit dem Wissen über das Schicksal ihres Kindes um?
■ Die Ausgangslage: Auf Bitte der Bundesregierung legte der Deutsche Ethikrat 2013 eine Stellungnahme zur „Zukunft der Gendiagnostik vor“. Sie sollte angesichts wachsender technischer Möglichkeiten Antworten geben auf Fragen nach einem verantwortlichen Umgang mit dem Recht auf genetisches Wissen oder Nichtwissen.
■ Die Forderungen: Aus Sicht des Ethikrats müssen Aufklärung, Verbraucherschutz und Patientenrechte gestärkt werden, etwa durch eine öffentlich getragene Informationsplattform. Wegen der Gefahr des Missbrauchs sollten sogenannte Direct-to-Consumer-Tests, bei denen Verbraucher oft nur Speichelproben einschicken, EU-weit verboten werden.
■ Die Umsetzung: Das Bundesgesundheitsministerium von Hermann Gröhe, CDU, teilt zur Stellungnahme des Ethikrats mit: „Die Prüfung der Empfehlungen durch die Bundesregierung ist noch nicht abgeschlossen.“
VON ANNE FROMM
Sarah Lenz hat nie bereut, dass sie es wissen wollte, obwohl das Wissen sie fast hätte verzweifeln lassen. Ein paar Tropfen Blut, dann sah sie die Zukunft ihres Kindes.
Sie sitzt in der Küche ihrer Berliner Altbauwohnung, 43 Jahre alt, schulterlanges, blondes Haar, kleine Lachfalten um die Augen. Sie heißt nicht Sarah Lenz. Ihre Geschichte ist ihr zu privat, um sie unter richtigem Namen zu erzählen. Was damals passiert ist, wühlt sie immer noch auf. Während sie darüber spricht, laufen ihr Tränen über die Wangen: „Nicht weil mich das heute noch traurig macht, sondern weil mich das damals so umgehauen hat“, sagt sie. Ihre Stimme bricht fast dabei.
Es ist Anfang Mai, einer der ersten warmen Tage des Jahres, als der genetische Code ihres Kindes in einem kleinen Plastikröhrchen schwimmt. Lenz ist risikoschwanger: In ihrem Alter bringt eine von 50 Frauen ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt, bei 30-Jährigen ist es dagegen nur eine von 900.
Deswegen will sie diesen Test machen, von dem sie so oft gelesen hat, den Pränatest. Das erste Verfahren, das allein anhand des Blutes der Mutter mit hoher Sicherheit herausfinden kann, ob das ungeborene Kind Trisomie 21 haben wird. Bisher mussten Schwangere dazu das Fruchtwasser oder das Gewebe der Plazenta untersuchen lassen. Beide Verfahren können eine Frühgeburt auslösen. Für den Pränatest reicht ein kleiner Stich in die Armbeuge, 20 Milliliter Blut.
Seit August 2012 ist der Pränatest in Deutschland zugelassen. Mittlerweile haben weitere Anbieter ähnliche Tests auf den Markt gebracht. Alle funktionieren ähnlich: Im Blut der Mutter befinden sich schon kleinste Schnipsel aus dem Erbgut des ungeborenen Kindes. Diese Schnipsel werden im Labor vermehrt und sortiert, so dass klar wird, aus welchem Chromosom sie stammen. Dann wird gezählt – und wenn zu viel DNA aus dem Chromosom 21 auftaucht, spricht das für Trisomie 21.
Die einen sehen darin die Revolution in der Pränataldiagnostik. Andere fürchten, dass noch mehr Frauen abtreiben, wenn so leicht herauszufinden wäre, ob ein Kind behindert ist. Hinter allem steht auch die Frage: Wie viel darf man, soll man über sein ungeborenes Kind wissen?
Als Sarah Lenz zur Blutabnahme geht, weiß sie nicht, ob sie ein behindertes Kind behalten würde. Aber sie will Sicherheit und die verspricht der Test: 99,8 Prozent aller Proben werden richtig bestimmt, liest sie auf der Webseite des Herstellers. Lenz zahlt knapp 1.300 Euro für den Test und die ärztliche Beratung. Im Frühjahr 2013 bieten noch nicht viele Ärzte ihn an. Lenz findet eine humangenetische Praxis in Berlin-Mitte. Die Ärztin ist eine freundliche Frau, Mitte 50, grauer Kurzhaarschnitt, Brille.
Wieso sollte ausgerechnet sie die eine sein?
Genetische Krankheiten in der Familie? Gibt es einen Verwandten, der Trisomie 21 hat?
Aus den Antworten erstellt die Ärztin einen Stammbaum, daraus ergeben sich keine Anzeichen für einen Gendefekt des Kindes. Dann nimmt sie Lenz Blut ab. Die Probe schickt sie in ein Labor nach Konstanz.
Als Lenz die Praxis verlässt, kommt ihr auf dem Flur ein Paar entgegen. Mitte 20, sie weint, er stützt sie. Lenz wird nervös.
Dann: zwei Wochen warten. Sie denkt viel darüber nach, was sie tun wird, wenn das Baby behindert ist. Mal kann sie sich vorstellen, abzutreiben, mal nicht. Weil sie das Warten nicht aushält, lässt sie einen Ultraschall machen. Die Ärztin misst die Nackenfalte des Kindes: 2,8 Millimeter, leicht über der Norm. Aus Nackenfalte und Lenz’ Alter berechnet sie das Risiko für Trisomie 21: Aus 1 zu 50 wird 1 zu 19. Das ist der erste Schock für Lenz.
1 zu 19, das bedeutet, dass eine von 20 Frauen, die die Risikofaktoren von Lenz mitbringen, ein Kind mit Trisomie bekommt. Eine von 20. So viel ist das doch gar nicht, rechnet sie sich das Ergebnis schön. Eine von 20, das heißt, bei 19 Frauen ist alles gut. Wieso soll ich die eine sein?
Sie meldet sich in einem Internetforum für Schwangere an. „Entscheidungshilfe in Sachen weiterer Diagnostik brauche ich nicht – sondern vielleicht einfach nur etwas Mut und Aufmunterung“, schreibt sie. „Die Wartezeit ist kaum auszuhalten … bin völlig fertig.“ Erst mal kein Grund zur Panik, alles Gute, viel Kraft, wünschen andere.
Einen Tag später sitzt Lenz in ihrem Büro. Es ist ein regnerischer Mittwochnachmittag, kurz vor Feierabend. Die Kollegen sind schon nach Hause gegangen, Lenz ist allein, als das Telefon klingelt. Sofort erkennt sie die Nummer der Humangenetikerin. Lenz hebt ab und hört, wie die Ärztin am anderen Ende tief Luft holt. Da weiß sie, was jetzt kommt: „Das Testergebnis ist auffällig.“ Auffällig.
Alles in ihr wird dunkel. Wie versteinert sitzt sie auf ihrem Bürostuhl. Lenz hat bereits einen großen Sohn, er ist 18 Jahre alt. Lange hat sie sich ein zweites Kind gewünscht, wurde aber nicht schwanger. Dann traf sie diesen Mann, über den sie heute nicht mehr sprechen will. Sie waren noch nicht lange zusammen, als Lenz überraschend schwanger wurde. Er wollte das Kind von Anfang an nicht. Die Beziehung ging auseinander.
Das Kind, das sie im Bauch trägt, hat Trisomie 21, Down-Syndrom.
Die nächsten Tage verbringt sie im Bett. Weinend und allein. Egal, wie sie sich entscheiden wird, denkt sie, sie wird nie wieder glücklich werden – nicht, wenn sie abtreibt, und nicht, wenn sie das Kind bekommt. Eine Frau, 43 Jahre alt, allein, wie soll sie ein behindertes Kind großziehen? Was, wenn sie irgendwann nicht mehr da ist? Wird das Kind jemals selbstständig sein? Wird es sich in der Großstadt zurecht finden? Wird es sich schützen können, wenn es angegriffen wird? Werden die Nachbarn oder andere Eltern sie und ihr Kind ausgrenzen?
Stundenlang liest sie sich durch Blogs und Foren, guckt sich Videos von Eltern mit behinderten Kindern an. Sie spricht mit ihrer Familie und mit Freunden, holt sich Rat bei Pro Familia. Alle sagen: Egal, wie du dich entscheidest, wir unterstützen dich. Der große Sohn sagt: Ich werde meinen Bruder lieben und mich um ihn kümmern, wenn du mal nicht mehr kannst.
Nach zwei Wochen geht sie zu der Fruchtwasseruntersuchung, die die Humangenetikerin ihr empfohlen hat. Sie soll das Ergebnis des Pränatests bestätigen. Lenz hat Angst, eine Freundin begleitet sie. Weinend liegt sie auf der Pritsche in der Praxis. Kurz bevor die Ärztin die Nadel ansetzt, überlegt Lenz noch, sie aufzuhalten. Der Pränatest gilt als sicher, wieso jetzt noch mehr Risiko eingehen? Sie lässt die Ärztin gewähren.
Der Arzt Heinrich August Wrisberg weist eine Schwangerschaft nach. Er legt sein Ohr auf den Bauch einer Frau und hört die Herztöne des Babys Quelle: Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe
1965
Der Ingenieur Richard Soldner stellt bei Siemens das erste Ultraschallgerät vor, mit dem man bewegte Bilder aus dem Mutterleib darstellen kann Quelle: Siemens
1966
Forscher entnehmen einer Schwangeren Fruchtwasser und untersuchen die Zellen des Ungeborenen auf Erbkrankheiten Quelle: Philipps-Universität Marburg
1983
Ärzte entwickeln die Chorionzotten-biopsie. Sie entnehmen in den ersten Monaten Zellen aus der Eihaut und analysieren sie genetisch Quelle: Ludwig-Maximilians-Universität München
1989
Ärzte schließen erstmals per Präimplantationsdiagnostik eine Erbkrankheit schon vor Einpflanzung eines Embryos in den Mutterleib aus Quelle: Deutscher Ethikrat
2012
Ein Bluttest zur Feststellung des Down-Syndroms kommt auf den Markt. Der Präna-Test ersetzt die riskante Fruchtwasseruntersuchung Quelle: Lifecodexx
Dann läuft ihr plötzlich Fruchtwasser in die Hose
Als sie wieder zu Hause ist, merkt sie, wie ihr Fruchtwasser in die Hose läuft. Viel, unkontrollierbar, die ganze Hose ist nass. Panisch ruft sie einen Rettungswagen. Das ist alles ihre Schuld, denkt sie. Jetzt stirbt das Kind, nur weil sie nicht wusste, wie sie sich entscheiden soll, weil sie den Beweis der Fruchtwasseruntersuchung wollte. Wie konnte sie nur so egoistisch sein?
Zehn Tage bleibt sie im Krankenhaus. Strenge Bettruhe und Antibiotikum. Der Chefarzt gibt ihr eine Woche, dann sollte sie wissen, ob sie das Kind bekommen möchte. Ihre Zimmernachbarin, selbst schwanger, fragt sie: „Was ist denn da eigentlich los bei dir?“ Lenz erzählt von dem Pränatest und dem Ergebnis, und dass sie nicht wisse, was sie machen soll. „Ist doch klar, dass du abtreibst“, sagt die Nachbarin. „Mit einem behinderten Kind machst du dich unglücklich.“ Lenz ist sprachlos.
Sie berät sich mit Hebammen, Krankenschwestern, Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern. Langsam beginnt sie Licht zu sehen. Sie erkundigt sich bei Kitas in ihrer Nähe, ob die auch behinderte Kinder aufnehmen und bekommt Kontakt mit anderen Eltern von Kindern mit Down-Syndrom. Ein Vater erzählt ihr, wie schwer es am Anfang war, mit der Diagnose umzugehen, dass ihr Kind aber mittlerweile in die Schule gehe und glücklich sei. Sie verlässt das Krankenhaus an einem sonnigen Tag, Mitte Juni. Sie weiß jetzt: Es wird nicht einfach werden, aber sie wird das Kind bekommen und genauso lieben, wie sie ein gesundes Kind lieben würde. Wie hässlich, denkt sie, dass ich ein behindertes Kind als Strafe empfunden habe.
Auch Sarah Lenz befürchtet jetzt, dass durch den Pränatest in Zukunft immer weniger Kinder mit Down-Syndrom zur Welt kommen. Trotzdem befürwortet sie den Test: „Wer wissen will, ob sein Kind behindert ist, der findet das auch ohne den Test raus.“
Ende November, fast auf den Tag genau ein halbes Jahr nach der Diagnose, betritt Lenz wieder das Krankenhaus. Es ist 7 Uhr morgens, heute soll ihr Sohn geboren werden. Zusammen mit den Ärzten hat Lenz entschieden, einen Kaiserschnitt machen zu lassen, weil die Geburt ihres ersten Sohnes schwierig war. Um 8.59 Uhr kommt Paul auf die Welt, 52 Zentimeter, Trisomie 21.
Drei Wochen später, in Lenz Küche, liegt Paul an ihrer Brust und trinkt. Blauer Strampler, dünne schwarze Haare. Seine Augen sind leicht mandelförmig, wie so oft bei Menschen mit Down-Syndrom. Die zarten Finger greifen nach der Brust der Mutter, er schmatzt leise. Heute hatte er seinen Hörtest – alles in Ordnung. Auch die anderen Organe sind gesund. Wie schwer seine Behinderung ist, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen, wenn er anfängt zu laufen und zu sprechen.
„Wenn ich mir heute überlege, dass Paul nicht leben könnte, wird mir ganz schlecht“, sagt Sarah Lenz.