: Ein basisdemokratischer Beethoven
KOLLEKTIVE SPIELKULTUR Die MusikerInnen von „Spira Mirabilis“ bewegen sich durch Beethovens 8. Sinfonie wie Fahrzeuge durch einen Shared Space: Wenn weder Ampeln noch Dirigenten Autorität ausüben, ist die gegenseitige Achtsamkeit am größten
Der Oldenburger Großherzog wäre not amused. Im prächtigen Hauptsaal seines Schlosses spielt ein Orchester, das absolutistische Führungsansprüche für überflüssig erklärt: Die jungen MusikerInnen von „Spira Mirabilis“ führen Beethovens 8. Sinfonie ohne Dirigenten auf. Statt Chaos entsteht dabei ein kollektives Musizieren von großer Sensibilität – und Präzision.
Ein Dirigent, nicht umsonst „Maestro“ genannt, ist nichts weniger als ein Monarch, der die musikalischen Abläufe mit absoluter Autorität bestimmt. Auf das kleinste Zucken seines Stabs hin haben die InstrumentalistInnen bedingungslos zu reagieren. Er heißt sie aufstehen, sich setzen, vor allem aber gibt er ihnen Gefühle vor: So und nicht anders soll dieses Werk empfunden werden. Diese Gestaltungsmacht kann ein großer Gewinn sein – dass sie, selbst bei großformatigen Werken, nicht die einzige Methode ist, musikalischen Mehrwert zu generieren, bewiesen die 36 aus ganz Europa stammenden MusikerInnen eindrucksvoll.
„Spira Mirabilis“ gibt es seit drei Jahren. Ursprünglich habe man weniger ans Auftreten, als schlichtweg ans Erproben eines kollektiven Ansatzes gedacht, erzählt der Geiger Michal Duris. Ein vierköpfiges Organisationskomitee regelt die äußeren Abläufe, bei intensiven Probenphasen werden alternative Interpretationen diskutiert.
Wer sich dabei in welchem Maß einbringt, sei „Charaktersache“, berichtet die Cellistin Ursina Braun. Anders gesagt: Ohne Hierarchien, seien sie offizieller oder informeller Art, funktioniert auch „Spira Mirabilis“ nicht. Die erste Geige, die den Begriff der „Konzertmeisterin“ mit neuer Funktionalität füllt, gibt mit viel Bogenschwung und tiefem Einatmen die Einsätze – sofern die Streicher die Phrase beginnen. Sonst übernehmen andere die Führung.
Das Bremer Musikfest ermöglicht derzeit reichlich Vergleiche zwischen der Orchesterarbeit mit und ohne Dirigent: Unmittelbar vor dem Oldenburger Konzert trat die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen beim Festival auf. Mit ihrem Pultstar Paavo Järvi, der gerade auch das „Orchestre de Paris“ übernahm, präsentierte sie ihr Robert-Schumann-Projekt: die Komplett-Einspielung von dessen früher unterschätzter Sinfonik. Diesen Schumann kann man nun als höchst eindrucksvollen Strudel erleben, in dessen Fokus Järvi steht: Er löst ihn aus, dosiert oder fordert. Die motivischen Dialoge der Instrumentengruppen wirbeln um Järvi herum, als sei sein Dirigenten- ein Zauberstab, der den MusikerInnen mit magischer Macht Klänge entlockt.
Sie wirken dabei hoch lebendig. Und doch ist der Elan der KollegInnen von „Spira Mirabilis“ ein anderer: Ihre Spielfreude wirkt, wie sollte es auch anders sein, individueller, ihre Begeisterung überbordender. Dass dabei gelegentlich zu forcierte Einsätze entstehen, etwa im Kopfsatz der „Achten“, mag eine Art Überkompensation sein. Als wolle man beweisen, dass für prägnante Akzente keineswegs ein gestenreiches Dirigat erforderlich ist.
Mit Kammerphilharmonie und „Spira Mirabilis“ stehen sich keineswegs krasse Gegensätze gegenüber, im Gegenteil: Es gehört zur Tradition der sich als Unternehmer verstehenden Kammerphilharmoniker, regelmäßig dirigentenlos zu musizieren – eben um die Qualitäten des quasi-kammermusikalischen Aufeinanderhörens zu trainieren. Umgekehrt spielen viele der „Spira Mirabilis“-Leute hauptberuflich in renommierten Klangkörpern wie dem Mahler Chamber Orchestra oder den Berliner Philharmonikern. „Ein Dirigent an sich ist ja nicht nutzlos“, sagt Braun großzügig.
Der kollektive Ansatz erfordert viel Probenzeit und hat bei allzu komplexer Sinfonik wohl seine Grenzen. Dass die keineswegs bei Schumann beginnen müssen, will „Spira Mirabilis“ im Herbst beweisen. Dann steht, so wurde demokratisch entschieden, Schumanns Erste auf dem Programm. HENNING BLEYL