Heiligkeit des Marktes

Ulrich van Suntum bietet einen „Masterplan Deutschland“ an. Seine Erkenntnisse überraschen jedoch kaum – und helfen wenig

VON FRANK LÜBBERDING

Zum ersten Mal seit dem Jahr 2000 gibt es in Deutschland ein fast schon vergessenes Ereignis: einen Konjunkturaufschwung. Nach Jahren der Stagnation erlebt man nicht nur eine boomende Exportwirtschaft, sondern auch steigende Investitionen und höhere Steuereinnahmen. Selbst eine Belebung des Arbeitsmarktes ist nicht auszuschließen. Zwar ändert das nichts an der sozialen Schieflage in Deutschland. Aber man ist ja bescheiden geworden. Für dieses außergewöhnliche Ereignis ist die Bundesregierung nur aus einem Grund verantwortlich: Sie tat fast nichts.

In diesem Jahr gibt es keine sofort wirkenden Sparrunden, keine Arbeitsmarktreformen, keine Mehrwertsteuererhöhung. Die gestiegenen Unternehmensgewinne müssten sich nur noch in steigenden Einkommen ausdrücken – und die Verkündung positiver Nachrichten ließe sich selbst für die Bundesregierung kaum noch vermeiden.

Dennoch: Deutschland steht leider vor dem Untergang, meint zumindest der Ökonom Ulrich van Suntum und will das in seinem Werk „Masterplan Deutschland“ beweisen. Schließlich lauert überall die Konkurrenz: Esten und Slowaken mit ihren niedrigen Steuern, Chinesen und Polen mit ihren niedrigen Löhnen, Tschechen mit ihrer Bescheidenheit und der natürlichen Neigung zu langen Arbeitszeiten.

Dazu kommt die teuflische Dreifaltigkeit deutscher Ökonomen: die Bürokratie, der verkrustete Arbeitsmarkt, die gesetzlichen Sozialversicherungen. Darüber wacht der Leibhaftige selbst: die Gewerkschaft. Zudem gebe es in der EU keine „deutsche Binnenkonjunktur“ mehr.

Van Suntums These vom Untergang hat allerdings mehr mit der Ideengeschichte des „Kulturpessimismus“ zu tun als mit Ökonomie. Denn ein Großteil der Wertschöpfung wird auf dem Binnenmarkt erarbeitet. Die meisten Unternehmen leben von der Nachfrage in Deutschland und nicht vom Export. Zudem ist dieser Binnenmarkt der größte in Europa. Gerade europäische Unternehmen brauchen den Absatz hierzulande, damit deren Volkswirtschaften die Einkommen zur Bezahlung deutscher Importe erwirtschaften können.

Ohne eine „deutsche Binnenkonjunktur“ kann es aber keine europäische Binnenkonjunktur geben. Die Exportorientierung ist aus dem Grund auch nur für die von diesem Autor als Vorbilder gefeierten Kleinstaaten wie Estland, die Slowakei oder Irland sinnvoll. Die Größe dieser Binnenmärkte ist für die europäische Volkswirtschaft weitgehend irrelevant. Irland etwa hat gerade einmal 3,7 Millionen Einwohner und seine ökonomische Bedeutung entspricht ungefähr der von Hamburg.

Der Autor wird mit diesem Konzept zu einem Nationalisten in der Kostümierung des Volkswirtes. Zugleich wird damit der Strukturwandel weg von der exportorientierten Industrie verbaut. Ohne einen expandierenden Binnenmarkt kann sich nämlich ein weitgehend regional ausgerichteter Markt im Dienstleistungssektor gar nicht erst entwickeln. So steht das Gesundheitssystem seit Jahrzehnten unter der Knute der Senkung von Lohnnebenkosten der kapitalintensiven Exportwirtschaft.

Man entlastet die kapitalintensiven Industrien – und verhindert damit den Ausbau eines Marktes mit enormen Potenzialen. Dabei ist es ökonomisch sogar gleichgültig, wie das Gesundheitssystem finanziert wird. Sinkende Einkommen reduzieren zwangsläufig die Nachfrage auch nach Gesundheitsleistungen. Egal, ob man nun private Prämien oder gesetzliche Beiträge bezahlt. In einer schrumpfenden Wirtschaft findet nur ein Anpassungsprozess statt – nach unten. Außerhalb Deutschlands ist diese Erkenntnis auch bei liberalen Ökonomen nicht umstritten. Aber dort bestreitet wohl auch niemand die Existenz eines Binnenmarktes.

In dem Buch finden sich noch ähnliche Erkenntnisse. Etwa wenn die von ihm gepriesene Kapitaldeckung der Sozialversicherungen in Konkurs gehen könnte. Man sollte dann doch wieder zum Umlageverfahren zurückkehren. So kommentiert der Autor die politischen Folgen eines fast totalen Vermögensverlustes weiter Bevölkerungsgruppen. Dem Autor ist angesichts solcher Ignoranz ein Standardwerk über den Untergang der Weimarer Republik zu empfehlen. Aber es dürfte nichts nutzen. Schon Max Weber verzweifelte an der politischen Ahnungslosigkeit seiner Standesgenossen.

Ulrich van Suntum wollte ein populäres Werk über unsere ökonomischen Probleme schreiben. Ihn ärgerten die „Christiansen Economics“. Denn dort würden so genannte Kaufkrafttheoretiker ihr Unwesen treiben. Er meint wirklich die Talkshow der Sabine Christiansen, wo man seit Jahren nichts anderes hört, als man in diesem Buch lesen kann. Diese Wahrnehmung ist exemplarisch für eine Sichtweise, die sich weitgehend von der Wirklichkeit verabschiedet hat. Sie wird von den meisten seiner Kollegen geteilt, wie er nicht ohne Stolz versichert. Genau hier liegt das Problem – und nicht in den neoklassischen Überzeugungen des Autors. Denn die dritte Auflage seines Buches „Die unsichtbare Hand. Ökonomisches Denken gestern und heute“ ist ein informatives, gut lesbares und sogar amüsantes Buch.

So beschreibt Ulrich van Suntum darin die Position der katholischen Kirche zum Zins im Mittelalter so: „Diese äußerst scharfsinnige Argumentation war typisch für das scholastische Denken. Es bestand aus einer Mischung von strenger Logik und rein metaphysischen Argumenten, die meist aus der Bibel abgeleitet wurden.“ Das ist eine exakte Beschreibung der Lage der deutschen Volkswirtschaftslehre zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Nur glaubt sie wie im „Masterplan Deutschland“ an die Heiligkeit des Marktes und verzichtet bisweilen auf den Scharfsinn.

Ulrich van Suntum: „Masterplan Deutschland. Mit dem Prinzip Einfachheit zurück zum Erfolg“. dtv, München 2006, 162 Seiten, 14 €ĽUlrich van Suntum: „Die unsichtbare Hand. Ökonomisches Denken gestern und heute“. Springer-Verlag, Heidelberg u.a. 2005, 344 Seiten, 22,95 Euro