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Archiv-Artikel

berliner szenen Besuch beim Schriftsteller

Hilsenraths Kräutertee

Als mich die Literaturwissenschaftlerin mit zu Edgar Hilsenrath nahm, trafen wir den Schriftsteller bei seinem Steglitzer Stammgriechen. Er löffelte bereits das Nachtischeis. „Sie rauchen wohl nicht?“, lachte der 80-Jährige, während er sich genüsslich eine Verdauungszigarette anzündete.

Bald darauf griff der rüstige kleine Mann zu seinem Stützrollerlenkrad und dirigierte uns zu einem Taxi, das uns zu seiner nahen Wohnung brachte. Andächtig traten wir ein. Und richtig, dort in der Ecke stand sie auch schon: seine 1954 gebraucht gekaufte Groma-Reiseschreibmaschine, auf der er „Nacht“, seinen Debüt-Ghettoroman, „ungefähr 20-mal“ schrieb!

Hier also lebte Hilsenrath zusammen mit seiner 2004 verstorbenen Frau Marianne Boehme. Nun saß er da allein und still auf dem Sofa, um mit uns über seine Bücher zu reden. „Wie kriegen Sie das überhaupt hin, so einen Roman wie ‚Der Nazi & der Friseur‘ runterzuschreiben, eine solche irre Mixtur aus Autobiografie, historischen Tatsachen und satirischer Fiktion?“, stammelte ich. „Bei mir kommt alles aus dem Bauch und nicht aus dem Kopf“, sagte Hilsenrath leise. „Das ist meine Gabe.“

„Aber wieso legen Sie dem Protagonisten in dieser sadomasomäßigen, ja grausamen Szene des Romans, in der er von einer alten Frau im Wald mittels erektionsfördernder Kräutertees zum Sexmarathon gezwungen wird, die Worte ‚Ich liebte Veronja die ganze Nacht‘ in den Mund?“, wollte meine Bekannte wissen. „Ich habe das in meiner Magisterarbeit so interpretiert, dass die Wortwahl auf subversive Regressionwünsche hindeutet!“

„Ach was“, lachte Hilsenrath, „ich wollte bloß nicht schon wieder das Wort ‚ficken‘ benutzen, das ist alles.“ JAN SÜSELBECK