: Der Reinwerfer von Mitte
Auf der Spur eines Abfall-Menschen in Berlin. Ein Treffen mit Raimund G.
Wer in diesen Tagen durch deutsche Städte läuft und nur ein wenig die Augen offen hält, wird sie nach einer Weile bemerken: die Armee der Unsichtbaren. Meist sind es Männer mittleren Alters in grauen oder blauen Windjacken, die still über Straßen und Plätze oder U- und S-Bahnhöfe ziehen. Immer ausgerüstet mit einer Plastiktüte, begeben sie sich auf die Suche nach Abfalleimern. Haben sie erst einen entdeckt, steuern sie ihn zielstrebig an, stellen sich vor ihn, heben ihre Plastiktüte, lassen ihre Hand hineingleiten in die Öffnung und den Blick leer in die Ferne schweifen – und so stehen sie minutenlang andächtig vor dem Papierkörben, bis sie sich zurückziehen, ohne dass irgendjemand sie beachtet: die Reinwerfer.
Die gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahren haben die Reinwerfer zu einem Massenphänomen unter der Oberfläche der Wahrnehmung werden lassen. Reinwerfer finden sich an allen Ecken der Republik, egal, ob es sich um eine reiche oder arme Gegend handelt. Um ihnen auf die Spur zu kommen und zu erfahren, was sie antreibt, wollen wir uns einem Vertreter dieser neuartigen gesellschaftlichen Spezies vorsichtig nähern.
U-Bahnhof Stadtmitte, Berlin. Wir müssen nicht lange warten. Da ist schon der Erste. Er steht am Ende des Bahnsteigs und steigt nicht in den Zug ein, sondern lehnt an einer Säule. Er hebt sich kaum von den Wandkacheln ab, ein Mann ganz in Grau. Undefinierbar die Haarfarbe, er trägt eine graue Regenjacke, graue Hose, dazu graue Sandalen. Die Plastiktüte in seiner Hand ist der einzige leicht bunte Fleck an seiner Erscheinung. Wir beobachten ihn aus den Augenwinkeln. Jetzt schleicht er direkt auf einen Abfallkorb zu, und wir wagen es: „Entschuldigen Sie?“, versuchen wir ihn vorsichtig anzusprechen. „Ich habe nichts getan!“, schreckt der Graue abrupt zusammen und will sofort die Flucht ergreifen. „Bitte, hören Sie doch!“, flüstern wir fast fürsorglich. Ein Tonfall, der etwas in ihm zu bewegen scheint, denn jetzt hebt er tatsächlich die grauen Augen und sieht uns an: „Ja?“, fragt er zögerlich, als ob er die Sprache erst wiederfinden müsste und lange, sehr lange mit niemandem mehr ein Wort gewechselt hat. „Können wir uns unterhalten, bei einem Kaffee?“, bitten wir ihn. Nach einigem Hin und Her stimmt er schließlich zu.
Raimund G. ist unglaubliche 29 Jahre alt. Dabei sieht er mindestens 30 Jahre älter aus. Wenn man ihn genauer betrachtet, ist er eine gepflegte Erscheinung. Er stammt aus rundum soliden Verhältnissen. Raimund G. lebt mit seiner Ehefrau in einer Doppelhaushälfte im Norden Berlins. „Früher war ich arbeitslos, doch heute bin ich Ingenieur bei Siemens“, beginnt er zögernd aus seinem Leben zu berichteten. Einem durch und durch geregelten Leben, das ihm alles bietet, wie er betont. Er hat ein Haus, eine Arbeit, eine Frau, Freunde, Bildung, Geld, Kinder und ein Hobby: In seiner Freizeit sammelt er Schokoladenpapiere, Feuerwehrmodellautos, Maggi-Flaschen, Mausefallen, Magritte-Poster und und und … „Viel zu viel“, hüstelt er verlegen.
Eigentlich habe er auch einen ganz anderen Stil, zu Hause trage er am liebsten Lacoste-Hemden und Armani-Anzüge, schließlich könne er sich das ohne Weiteres leisten, aber dann … – Raimund G. unterbricht verlegen seine Lebensbeichte. Fahrig winkt er die Kellnerin herbei und bestellt sich einen Cognac, den er zügig leert. Dann stürzt es nur so aus ihm heraus. Dass er irgendwann nicht mehr konnte, der ganze Plunder, der sein Haus, seine Ehe, seine Persönlichkeit verstopfte. In seinen schlimmsten Stunden dachte er nachts schon an Selbstmord. „Ein riesiges Autodafé wollte ich“, schwärmt er nun beinahe, seine Augen leuchten: „Ein Feuer, in dem wirklich alles verbrennt!“ Doch dann kam der Moment, der seinem Leben eine Wendung geben sollte.
Der Frankfurter Soziologe Professor Ewald Hunsmann vom Institut für angewandte Alltagsphilosophie hat das Phänomen der Reinwerfer als Erster untersucht. Hunsmann spricht von den Vergessenen der Überflussgesellschaft. Seinen Studien nach kompensieren die Reinwerfer ihre Zuwachsängste in einer Gesellschaft, die sie zu Gewinnern gestempelt haben, indem sie nach und nach ihre Identität verschwenden und sich Stück für Stück verschenken. Sie werfen Dinge, Gegenstände, ihr ganzes Leben in öffentliche Mülleimer. Und der Moment des Loslassens, wenn der Arm noch in der Öffnung des Abfallkorbs steckt, sei durchaus mit einem Orgasmus zu vergleichen. Hunsmann hat dafür den Begriff vom „Wegwerfsex“ geprägt. Erst kürzlich hat der Focus deshalb dem neuen Phänomen einen Titel gewidmet: „Die 100 besten Reinwerfer“.
„Die Perlenhalskette meiner Frau“, berichtet Raimund G. stolz von seiner größten Tat. Das war das Teuerste, was er jemals einfach so weggeworfen hat. „In einer U-Bahnstation, eine ganz arme Gegend. Und dann habe ich gewartet.“ Er musste nicht lange ausharren. Dann kam einer. Einer von der Gegenseite. Ein Rausholer. Einer, der Abfall aus Mülleimern klaubt.
Wie verstehen sich denn Reinwerfer und Rausklauber eigentlich so, wollen wir wissen, und ob man sich als Konkurrenz sieht? „Man geht sich aus dem Weg“, weicht Raimund G. aus. „Damals, als ich so am Ende war, sah ich eines Tages in der Stadt einen Reinwerfer. Das war meine Rettung. Es hat alles verändert. Mein Leben bekam einen neuen Sinn!“
Als Raimund G. mit uns das Café verlässt und sich verabschiedet, ist er nach wenigen Schritten bereits wieder der unsichtbare graue Mensch, der in der Masse untertauchend dem nächsten Abfalleimer entgegenstrebt. Und doch ist er ein glücklicher Mensch. MICHAEL RINGEL