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Archiv-Artikel

„Viele Schulen stehen in Flammen“

BILDUNGSKRISE Exaußenminister Klaus Kinkel kritisiert, dass Schule „eher ein Reparaturbetrieb ist“. Der Vorsitzende der Telekom-Stiftung fordert, mehr in Bildung zu investieren. Sein Traum: eine Schule für das 21. Jahrhundert

Klaus Kinkel

■ 73, war Justiz- und Außenminister der Bundesrepublik. Er steht seit acht Jahren der Telekom-Stiftung vor. Kinkel legte das Abitur in Hechingen (Baden-Württemberg) ab und begann zunächst ein Medizinstudium, ehe er zur Juristerei wechselte. Kinkel war Chef des BND. Er hat vier Kinder und ist selbst kein Technikfreak. Kinkel gehört der FDP an.

INTERVIEW CHRISTIAN FÜLLER

taz: Herr Kinkel, die OECD hat Deutschland erneut ein mittelmäßiges Zeugnis für seine Bildungsergebnisse ausgestellt. Gehen dem Exaußenminister diese Einmischungen nicht langsam auf die Nerven?

Klaus Kinkel. Nein, überhaupt nicht. Ich bin froh, dass da jemand den Finger in die Wunde legt. Wir brauchen offenbar diesen Kick von außen, sonst kommen wir nicht in die Gänge.

Sie meinen, es wird zu wenig Schulreform gemacht?

Es wird eine Menge getan, ja, aber mit fehlt die Fokussierung. Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Politik viel über Bildung redet. Aber bei den essenziellen Fragen ist sie nicht wirklich in der Tiefe drin. Wenn ich mir zum Beispiel anschaue, dass es dem Bund verboten ist, mit den Ländern gemeinsam an einer guten Schule zu arbeiten, dann fasse ich mich an den Kopf.

Wieso so undiplomatisch, Herr Kinkel?

Weil uns die Zeit davonläuft. Wir sind eine der Top-Wirtschaftsnationen, beim Export sogar Weltmeister. Technologisch gesehen befinden wir uns aber nur auf Platz 11 in der Welt. Wenn wir diesen Platz auch nur halten wollen, müssen wir uns gewaltig anstrengen. Und das tun wir leider nicht.

Kann man Bildung nur an Rankings orientieren?

Nein, das allein soll man nicht tun. Es geht letztlich um die Kinder, es geht darum, ihre wunderbare Neugier wachzuhalten, und um ihre Chancen in der Gesellschaft. Aber genau da liegt der Hase doch im Pfeffer. Wir lassen unglaublich viele Talente liegen – und deswegen haben wir auch ein technologisches und demografisches Problem. In den Wachstumsregionen unserer Republik geht uns der gute Nachwuchs bereits aus. Und jeder weiß, dass die Wirtschaft vor einem dramatischen Fachkräftemangel steht. Der VDI beklagt, dass bis zu 100.000 Ingenieure fehlen.

Sprechen jetzt aus Sicht der Telekom oder als besorgter Bürger?

Die Telekom, deren gemeinnütziger Stiftung ich vorstehe, wird ihren Fachkräftebedarf wohl decken können. Wir können uns die Besten aussuchen – immer noch. Aber wie sieht’s bei den technologisch orientierten Mittelständlern aus? Wo soll unser Jobmotor den neugierigen Nachwuchs herbekommen, wenn wir jedes Jahr ein Fünftel eines Jahrgangs als Risikoschüler entlassen? Wenn sie fünf Kinder haben, dann lieben und fördern sie doch alle fünf – und lassen nicht zu, dass eines nicht richtig lesen und rechnen lernt!

Das ist schlimm, Herr Kinkel, keine Frage, aber auch nicht brandneu. Ich wundere mich ein bisschen, dass Ihnen das als Chef der Telekom-Stiftung auffällt. Wieso haben Sie das so nicht als Politiker gesagt? Sie waren erste Liga, Ihr Wort hatte Gewicht.

Damals war es erst 6 Minuten vor 12. Aber ich will mich nicht rausreden. Ich habe mich als Minister zwangsläufig vor allem auf Justiz- und Außenpolitik konzentriert. Ich habe nicht wirklich gewusst, wie sehr wir mit unseren Schulen hinterherhinken. Ich habe in meinen acht Jahren als Stiftungschef viel dazugelernt und bin auch erschrocken.

Worüber?

Dass unser Bildungssystem von der Basis im Kindergarten bis hinauf zur Spitze seiner Universitäten nicht mehr Spitze ist. Wir müssen uns auf die Hinterbeine stellen, ganz klar. Wenn wir wirklich Technologienation bleiben wollen, müssen wir uns anstrengen, gewaltig anstrengen. Besonders in den Schulen, sie verlieren zu viele Jugendliche.

Telekom-Stiftung

■ Die Telekom-Stiftung gibt es erst seit 2003. Sie gehört dennoch mit 150 Millionen Euro zu den größten deutschen Stiftungen. Das ist viel Geld in absoluten Zahlen – aber relativ wenig für die gigantische Größe der Stiftungsmutter Telekom, die einen Jahresumsatz von fast 65 Milliarden Euro hat. Die Telekom-Stiftung hat 10 Forderungen für die Zukunftsenergie Bildung: 1. Mehr Investitionen in Bildung 2. Bessere Startchancen: Kein Kind darf zurückbleiben 3. Bildung für den Elementarbereich: Bessere Ausbildung für ErzieherInnen 4. Übergänge zur Schule: Weniger Brüche in der Sekundarstufe I 5. Mehr Ganztagsschulen mit besserer Technologie 6. Mehr Autonomie von Schulen und Hochschulen 7. Höheres Ansehen für den Lehrerberuf 8. Bessere Lehrerausbildung 9. Mehr Lehrerfortbildung 10. Akademikerquote erhöhen

Warum ist das denn so, Herr Kinkel?

Da gibt es nicht nur einen Grund. Ein wichtiger aber ist, dass wir in der frühkindlichen Bildung zu spät und zum Teil auch falsch mit den Kleinen lernen. Diese Kinder sind wahnsinnig interessiert, das weiß jeder, der Kinder oder Enkel hat. Aber wir nehmen ihre Neugier und ihren Forscherdrang auf eine völlig unzureichende Art auf. So rauben wir vielen Kindern den Schwung – der ihnen dann in der Schule fehlt.

Aber in der Schule geht das Lernen dann doch richtig los!

Mir kommt die Schule manchmal eher wie ein Reparaturbetrieb für frühe Versäumnisse vor – ein schlecht gemachter. Die Schule kann Rückstände der Kinder kaum mehr kompensieren. Dafür hat sie zu wenig Zeit und dafür hat sie auch zu viele Gelenk- und Übergangsstellen, an denen viele dieser Kinder hängen bleiben. Und, wir investieren viel zu wenig, das hat die neueste OECD-Studie wieder gezeigt. Wir tun vor allem zu wenig für jene Schulen, in denen es wirklich brennt. Bildlich gesprochen stehen viele deutsche Schulen in Flammen – und wir versuchen den Brand mit einem Löscheimerchen zu ersticken.

Sie meinen Hauptschulen?

Es geht nicht nur um die Hauptschulen, sondern auch um bestimmte städtische Viertel, in denen sich die Probleme der Migration und des schwachen sozialen Hintergrunds oftmals konzentrieren. Die Hauptschulen sind nur ein Symbol dafür, was unser Schulsystem Kindern teilweise zumutet: Es konzentriert die Verlierer und schafft, verzeihen sie, Lumpensammlerschulen. Es entstehen sehr ungleiche Startchancen. Aber das muss uns alle angehen, weil wir diese Kinder und ihre Talente alle wertschätzen müssen – und weil wir sie für unsere Zukunft einfach brauchen!

Die Politik unternimmt so einiges, gerade hat Frau Schavan angekündigt, 1.000 Bildungslotsen einzustellen, die schwachen Schülern den Weg weisen.

Frau Schavan gibt sich viel Mühe, und ich werde jetzt nicht eine sinnvolle Maßnahme kritisieren. Aber es ist so, wie ich es schon für den Kindergarten und unser generelles Konzept beschrieben habe: Zu spät, zu wenig, zu zögerlich. Mit 1.000 Bildungslotsen beheben wir nicht das strukturelle Problem, das wir haben: 20 Prozent Risikoschüler, fast 80.000 Schulabbrecher und neben unserer dualen Ausbildung ein sogenanntes Übergangssystem, in dem 400.000 Jugendliche Warteschleifen drehen. Wir haben, kurz gesagt, unten nicht die Breite, die wir brauchen, um oben richtig gut zu sein. Und statt anzupacken, streiten sich Bund und Länder, wer eigentlich wo hinfassen darf.

Sie sind gegen diesen Kompetenzstreit?

Ja selbstverständlich. Ich bin da auch nicht immer mit meiner Partei zufrieden. Es kann doch nicht sein, dass Frau Schavan gute Ideen hat, wie etwa in Brennpunktschulen gezielt Hauptschüler zu unterstützen, und die Länder mauern. Es versteht kein Bürger, dass wir Bildungsstandards für ganz Deutschland aufgestellt haben – sie aber überall anders oder gar nicht umgesetzt werden. Und es ist eine Sünde, dass wir in der Lehrerbildung nicht vorankommen. Die Konferenz der Kultusminister ist da ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden.

Interaktive Schulen

■ In einem Modellprojekt testet die Telekom-Stiftung mit vier Schulen die Klassenzimmer der Zukunft. Das Projekt greift seit 2008 auf 15 Partnerschulen über. Es soll mit den, wie selbst die Telekom-Stiftung noch schreibt, „neuen“ Medien zu wirkungsvollerem, stärker eigenverantwortlichem und selbstständigem Lernen führen. Zum Netzwerk gehören die Wöhlerschule der Stadt Frankfurt am Main, Europaschule Bornheim in Nordrhein-Westfalen und in Leipzig die 56. Schule „Mittelschule“ sowie die Werner-Heisenberg-Schule. Die Schulen wurden mit je 40 Laptops ausgestattet, die – wie es heißt – „auf zwei transportablen Wagen“ gelagert werden. Zusätzlich gibt es PCs, Smartboards, Beamer und ein drahtloses Funknetz. Ab Herbst 2010 soll das Netzwerk der interaktiven Schulen weiter ausgebaut werden.

Warum nicht?

Bei uns verabschiedet sich in den kommenden fünf Jahren eine halbe Lehrergeneration in den Ruhestand – aber wir haben nicht genug gut ausgebildete Ersatzleute. Das kann doch nicht wahr sein. Ein zentrales Problem ist, dass die Hochschulen die Lehrerausbildung, insbesondere die Mint-Lehrerausbildung, überhaupt nicht ernst nehmen, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Das läuft bei den Unis nebenher. Und die didaktische Ausbildung fehlt vollkommen. Daher rührt für die Menschen das Schreckensfach Mathematik. Wissen Sie, das treibt mich um. Alle reden immer davon, wie wichtig Bildung ist – aber gleichzeitig gehen uns die guten Lehrer aus! Ich wundere mich überhaupt nicht darüber, dass die Bürger manchmal über die Kultusminister schimpfen.

Darf ich Sie nach Ihren Konzepten fragen?

Wenn sie viel Zeit und Platz haben, ja. Wir müssen zuerst das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern aufheben, damit wir gemeinsam an der Zukunft arbeiten können. Und dann sollten wir an den Stellschrauben drehen, die wirksam sind: Mehr Konzentration auf den Anfang, die vielen Übergänge in der Schule hinterfragen, die Zahl der Bildungsverlierer drücken – und uns jener Gruppe widmen, die hoch motiviert ist: den Mädchen. Wir lassen die bessere Hälfte unseres Teams auf der Ersatzbank schmoren.

Sie sind ein zorniger Mann, Herr Kinkel. Haben Sie auch einen Traum?

Ja. Ich träume davon, dass wir nicht nur reparieren, sondern uns bald der Zukunft zuwenden und die Schulen und Klassenzimmer für das 21. Jahrhundert fit machen. Die digitale Welt bietet viele faszinierende Lernmittel – und sie zeigt uns auch ganz neue Lernmethoden. Man kann das in den vier Modellschulen sehen, die die Telekom-Stiftung fördert. Wenn ich mich zu sehr über das alte Schulsystem ärgere, fahre ich dorthin: Um die Schule von morgen anzuschauen!