Der eitle Mann und das Meer

Eine faszinierende Meditation über Alter, Verlust und Persönlichkeit: John Banvilles Roman „Die See“

von SEBASTIAN WÜCK

Man kann das Meer genauso wenig mit Händen greifen, wie man die Erinnerung festhalten kann. Beide lassen nicht mehr als eine Ahnung zurück, den Geschmack von Salz auf den Fingern. Auf ähnliche Weise ungreifbar bleibt John Banvilles neuester und preisgekrönter Roman „Die See“, eine eigenwillige und faszinierende Meditation über Alter, Verlust und die Bruchstücke, die wir Persönlichkeit nennen. Form geht dem irischen Schriftsteller dabei weit über Inhalt, doch wie schon in seinen zahlreichen früheren Romanen erweist er sich darin auch dieses Mal wieder als ein Meister. Es gibt Bücher, die erzählen ohne Stil eine spannende Geschichte. Banville macht das genaue Gegenteil: wunderschön, poetisch, Gänsehaut erzeugend erzählt er eine wenig originelle, fast schon langweilige Geschichte.

Max Morden, ein seit kurzem verwitweter alternder Kunsthistoriker, kehrt nach Ballyless zurück, einer kleinen Stadt an der irischen Küste und einem wichtigen Ort seiner Kindheit. Dort lässt er sich von den Erinnerungen treiben und erzählt mit fast unangenehmer Direktheit von sich, vom Sterben seiner Frau und von einem einschneidenden Erlebnis, dass das Ende seiner Kindheit markierte.

Die verschiedenen Zeitebenen, in denen sich Reflexionen, vermischt mit Erinnerungen und obsessiven Beschreibungen, finden, unterbrechen sich immer wieder gegenseitig und fügen sich erst allmählich zu einem Bild zusammen, das zwar inhaltlich schlüssig sein mag, das aber Leser wie Erzähler gleichermaßen unbefriedigt zurücklässt. Und das mit voller Absicht.

Auf der Flucht vor seinen streitenden Eltern heftet eines lang vergangenen Sommers der Schuljunge Max seine Fersen an die wohlhabende Familie Grace, das Ehepaar Carlo und Connie, die Zwillinge Chloe und Myles sowie das Kindermädchen Rose. Angezogen vom mondänen und freizügigen Lebensstil der Graces, fällt er zuerst in eine schwärmerische Verehrung für die Mutter, die sich aber sehr bald auf die launische und unberechenbare Tochter verlagert. Doch das Ganze wird keine unbeschwerte oder gar kitschige Erzählung über die erste Liebe, dafür sorgen sowohl der tragische Ausgang der Geschichte als auch die selbstgefällige Wehmut des Erzählers, die er seitdem mit sich herumträgt.

Dieser Erzähler, den Banville wie immer mit größter sprachlicher Sorgfalt konstruiert, hält sich mit Vorliebe gedanklich in der Vergangenheit auf, und so wird der Roman nicht so sehr von Handlungen getragen, sondern eher vom endlosen Strom seiner Gedanken, ausgelöst durch Erinnerungen, nicht wenige davon schuldhaft. Sein Versuch, Abbitte zu leisten, scheitert jedoch immer wieder an seiner Unfähigkeit, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Stattdessen verbirgt er sich hinter einem manieristischen Stil, einer verführerisch bildreichen Sprache, narzisstisch, melancholisch und detailversessenen bis zum Grotesken, mit einer erstaunlichen poetischen Wirkungskraft.

Was ihn fasziniert, ist die Beschaffenheit der Dinge, ihre Textur: fragmenthafte, in die Totale vergrößerte Versatzstücke des menschlichen Körpers, die von ihm ästhetisch hochwertig, wenn auch nicht immer angenehm, arrangiert werden. Vergangenheit wird hier zu einem Reigen assoziativ aus dem Zeitverlauf gerissener Erlebnisse, vielleicht am ehesten vergleichbar mit einem Ausstellungsraum für Stillleben, bei denen ja bekanntlich nie das Insekt oder die Schnecke oder Ähnliches als Symbol der Vergänglichkeit fehlen darf.

Die Geschichte wird dabei immer unwichtiger, und die vermeintliche Pointe wird zum Schluss zwar erzählt, aber gleichgültig wie das Meer. „Ein bedeutungsschweres Nichts.“ Sollte man daher „Die See“ gar nicht als Roman, sondern immer wieder als Lektüre für Minuten lesen und sich an den schönen Sätzen erfreuen? Oder sollte man sich fragen, ob nicht auch weniger Seiten gereicht hätten, um den Begriff Epiphanie darzustellen? Sicherlich ist die Sprache, die Banville für seinen Erzähler schafft, nicht selten unnötig geschraubt, steigert sich Kunstfertigkeit zur Künstlichkeit. Das ist bisweilen eine schwere Aufgabe für den Leser, gar eine undankbare für die Übersetzerin, und doch unabdingbar für das Funktionieren dieses Romans, der auf präzise Art ein Trugbild erschafft, bei dem man immer weniger zu erkennen meint, je genauer man hinsieht. Die Unmöglichkeit, den Erzähler eindeutig fassen zu können, die sich maßgeblich aus den Ambivalenzen der Sprache entwickelt, geht leider in der Übersetzung, die wie jede Übersetzung gar nicht umhin kann, manches eindeutiger zu machen, als es im Original war, etwas verloren. Das ist schade, ergeben sich doch aus dieser Ungreifbarkeit sowohl Frustration als auch Faszination für diesen nicht leicht verdaulichen Roman, der beständig an den Leser heranrollt wie Atlantikwellen. Und die sind unberechenbar.

John Banville: „Die See“. Aus dem Englischen von Christa Schünke. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 218 Seiten, 17,90 Euro