: „Wir haben den Hunger nach Land unterschätzt“
DER PROVINZFORSCHER Kenneth Anders ist schon in den neunziger Jahren von Berlin ins Oderbruch gezogen. Seitdem beschäftigt sich der Kulturwissenschaftler mit der Zukunft der peripheren Räume in Brandenburg. Und warnt davor, dass sie ähnlich entmischt und aufgewertet werden, wie das in der Stadt geschieht. Denn auch die Investoren haben das Land entdeckt
■ Der Mensch: Kenneth Anders wurde 1968 in Naumburg geboren und lebt heute mit seiner Frau, einer Architektin, und den vier Kindern in Croustillier im Oderbruch.
■ Der Pavillon: Der Oderbruchpavillon, den Anders 2004 gemeinsam mit Lars Fischer gründete, wurde 2008 durch vier Szenarien bekannt. Eines davon beschreibt, wie das Oderbruch nach einem Hochwasser aufgegeben wird (oderbruchpavillon.de).
■ Der Künstler: Neben seiner Arbeit als Provinzforscher schreibt Anders auch Theaterstücke und macht Kleinkunst. Für die Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde arbeitet er in Projekten mit.
■ Der Verlag: Zusammen mit Lars Fischer führt Anders den Aufland Verlag, in dem auch ein Buch mit Anders’ Kolumnen über Land und Stadt erschienen ist: „Latte Macchiato im Busch“ heißt es.
INTERVIEW UWE RADA FOTOS ERIK-JAN OUWERKERK
taz: Herr Anders, werden Sie immer noch mit der Bemerkung begrüßt: Sie sind doch derjenige, der uns absaufen lassen wollte?
Kenneth Anders: Schon lange nicht mehr. Natürlich weiß ich nicht, wie andere über mich denken. Aber seitdem wir 2008 die Szenarien für das Oderbruch vorgelegt haben …
… wobei eines, das sogenannte Katastrophenszenario, davon handelte, wie das Oderbruch nach einem neuerlichen Jahrhunderthochwasser aufgegeben wird. Das hat Ihnen damals viel Ärger eingebracht.
Aber das ist sechs Jahre her. Inzwischen kandidiere ich bei den Kommunalwahlen sogar als Gemeindevertreter. Das wäre damals nicht vorstellbar gewesen.
Wenn es um die Zukunft der Provinz und der peripheren Räume geht, mischt in Brandenburg die Politik mit. Dann gibt es die Bürgerinitiativen, die Künstler, die Hochschule in Eberswalde, und es gibt Kenneth Anders und Lars Fischer mit ihrem Oderbruchpavillon. Welche Rolle haben Sie?
Inzwischen sind wir eine Gruppe von sechs, sieben Freiberuflern. Der Oderbruchpavillon ist die Diskussionsplattform, die wir zur Verfügung stellen, das Büro für Landschaftskommunikation ist der Arbeitszusammenhang. Dann haben wir noch den Aufland Verlag, der sieben, acht Bücher im Jahr herausgibt.
Was treibt Sie an?
Wir wollen Diskussionen anregen. Das, was man in der Stadt Öffentlichkeit nennt, gibt es auf dem Land in dieser Form nicht. Eine Kontroverse kommt so natürlich nicht zustande.
Sie sind also eine Art große Wandzeitung der Provinz – im Netz und im realen Raum.
Und das immer mit dem Ziel, den Diskurs über Kulturlandschaften voranzutreiben. Wenn wir über die Zukunft einer Landschaft wie das Oderbruch reden, brauchen wir eine Menge Material. Vieles davon müssen wir uns erst erarbeiten. Das ist nicht einfach, weil die Leute ungeduldig sind, auch in der Politik und der Regionalplanung. Die wollen schnell wissen, ob ein Windpark an die oder die andere Stelle kann. Wir aber wollen möglichst so lange darüber reden, bis alle Beteiligten sich über Sinn oder auch Unsinn verständigt haben.
Sie sind in Naumburg an der Saale geboren und haben in Berlin und Leipzig Kulturwissenschaften und Philosophie studiert. Woher die Liebe zur Provinz?
Vor allem in Leipzig habe ich mich in der städtischen Umgebung sehr wohl gefühlt. Da hatte ich auch das Gefühl, alles, was in der Stadt passiert, mitzubekommen. Das war in Berlin nicht mehr der Fall. Da haben wir, als das erste Kind kam, in Karlshorst gewohnt. Das war schon etwas ab vom Geschehen. Das haben auch meine Freunde betont: Du wohnst ja so weit draußen!
Gab es keinen Wunsch, mitten ins Geschehen zu ziehen? Kreuzberg, Friedrichshain, Prenzlauer Berg?
Mir war dieses Denken – das ist die Mitte und das die Peripherie – fremd. Das fiel mir damals auf. Auch, wie bestimmte Stadtquartiere symbolisch aufgeladen wurden. All das andere, was nicht dieses symbolische Kapital hatte, fiel hinten runter. Von da war es dann nicht mehr weit zu sagen: Jetzt geh ich ganz raus.
Wann war das?
1993 haben wir ein Neubauernhaus im Oderbruch entdeckt, das eigentlich total hässlich war. Kein schönes Fachwerkhaus, kein Klinkerbau, nichts, was nach Landidylle aussieht. Wir haben das zum ersten Mal im Januar gesehen, als noch Restschnee auf dem Acker war. Meine Schwiegermutter sagte damals: Das ist eine Selbstmordlandschaft. Ich fand das total gut.
Sie haben neulich eine Kolumne geschrieben: 24 Gründe, warum ich in der Provinz lebe.
Das war so eine Art Bilanz. Ein ganz wichtiger Grund damals war die Dunkelheit. Ich erinnere mich noch, wie ich bei meinem Nachbarn war und Fenster gestrichen habe. Ich musste raus zum Pieseln, trat vor die Tür, es war November, und plötzlich war es stockdunkel, schwarz wie die Nacht. Nichts zu sehen, das war ein Hochgefühl.
Welches Image hatte denn das Oderbruch oder überhaupt die Provinz in Brandenburg? Zu DDR-Zeiten war das ja oft ein dissidentischer Ort.
Die Provinz als Rückzugsort für Künstler, das war da. Die waren aber alle älter als ich. Da konnte ich mich gar nicht ohne Weiteres anschließen. Ich wusste auch nicht, ob ich zu denen überhaupt gehören will. Und dann war das ja auch die Zeit, in der das Bild der Provinz sehr düster war.
Im nahegelegenen Eberswalde wurde Antonio Amadeu von Neonazis ermordet.
Eberswalde galt damals als die kaputte, neofaschistische, ostbrandenburgische Industriestadt schlechthin. Damals war noch gar nicht so richtig klar, wo das alles hingeht. Ein Nachbar, er hatte keine Fahrerlaubnis, fuhr immer mit dem Auto zur Loveparade. Er sah auch aus wie ein Raver, er hätte aber auch ein Rechter werden können.
Wie wurden Sie in Ihrem Dorf aufgenommen? Gab es da auch Feindseligkeiten?
Nie. Es war auch nicht gleichgültig. Es war sehr freundlich. Es hat gereicht, dass wir ein einziges Mal zum Grillen eingeladen haben. Alle waren da.
In den Feuilletons ist ja immer von diesen Konflikten die Rede: Die Einheimischen wollen, dass die gepflasterte Dorfstraße asphaltiert wird. Die Zugezogenen finden sie romantisch und gründen eine Bürgerinitiative.
Einmal wurden an der Straße zu unserer Streusiedlung achtzig Apfelbäume gepflanzt. Allerdings wurden die nicht gegossen. Wir wollten die Allee retten, sind aber gegen Wände gelaufen. Dann gab es noch Vandalismus, die Landwirte haben gesagt, die sind im Weg. Offenbar war es nur uns wichtig, dass diese Apfelbäume überleben. Heute steht davon kein einziger mehr. Heute würde ich sagen: Das war schlecht geplant, weil es vorher einfach nicht kommuniziert wurde.
Welche Zukunft hat das Oderbruch?
Den Leuten, die heute ganz schnell mit der Forderung kommen, man müsse eine Landschaft auch mal aufgeben, sage ich: Wenn ich nicht möchte, dass diese Landschaften im Sinne einer Kapitallogik beschleunigt werden, ist die Besiedlung enorm wichtig. Einer, der die Landschaft gnadenlos verwerten will, muss als Erstes die Leute raussiedeln. Ich sage dann: Wollt ihr deren Geschäft betreiben?
Ist das nicht eine Kehrtwende? Im Zusammenhang mit der Debatte über schrumpfende Landschaften war die Forderung, Landschaften aufzugeben, fast revolutionär.
Damals lastete aber noch nicht der Verwertungsdruck auf dem Boden. Mehr noch: Die Wildnisdebatte in den neunziger Jahren hatte zur Folge, dass wir den wachsenden Nutzungsdruck nicht gesehen haben. Wir haben nicht gesehen, wie die Boden- und Pachtpreise steigen. Wie gierig dieser Hunger nach Land wurde. Wie sehr die Funktionen der Landschaft auch entmischt wurden.
Wie sieht diese Entmischung aus?
Da gibt es Tourismusgebiete, wo die Leute nur noch Urlaub machen. Daneben gibt es Agrargebiete, wo modern produziert wird. Dann gibt es Siedlungsgebiete, wo alle wohnen. Das alles spielt den Kapitalinteressen in die Hände.
Sehen Sie da Parallelen zur Entmischung der Stadtquartiere?
Wie in der Stadt sind es auch auf dem Land die öffentlichen Räume, die auf der Strecke bleiben. Nur ist das schwieriger zu erkennen. Da muss man wissen, dass die bürgerliche Idee der Landschaft die als öffentlicher Raum ist, der von jedem zu betreten ist. Alle können sie durchqueren und sich in ihr aufhalten. Dass die Deutschen so eine Waldmacke haben, liegt weniger an Hermann dem Cherusker und der Schlacht am Teutoburger Wald. Es liegt am Waldgesetz.
Warum?
Das Waldgesetz erlaubt ihnen, jeden Wald zu jeder Zeit zu betreten und niemandem rechenschaftspflichtig zu sein. Das ist ein sehr hohes Gut. Ich sehe aber, dass wir Gefahr laufen, das zu verspielen. Die Meinung, man könne in entsiedelten Landschaften die Nachhaltigkeit der Landnutzung sichern, ist ein Irrglaube. Deshalb brauchen wir da nach wie vor Menschen, die dort wohnen und ihre ganz alltäglichen Ansprüche an diese Räume geltend machen.
Würde es, wenn die Menschen weiter abwandern, ähnlich wie in der Stadt die Gated Communitys auch Gated Landscapes geben, die nicht mehr von allen betreten werden dürfen?
Das ist meine größte Angst. Wir haben jetzt schon viel weniger Wege in der Landschaft als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Wo ist der Querfeldeinweg? Schiffmühle im Oderbruch zum Beispiel hatte früher Massen von Wegen in die Berge und hinunter an die Alte Oder. Die meisten sind verschwunden oder werden sukzessive geschlossen. Weil jemand seinen Gartenzaun durchzieht.
Sie haben den Imagewandel der Provinz seit Anfang der neunziger Jahre erlebt. Wann ist es denn schick geworden, aufs Land zu gehen?
Ist es wirklich schick geworden? Wir haben neue Nachbarn aus Berlin in unserem Dorf, und wenn die Besuch bekommen, steht der immer noch fassungslos bei uns am Gartenzaun und fragt: Und ihr lebt hier? Wo geht ihr einkaufen? Wo gehen eure Kinder zur Schule? Auf jeden Fall aber gab es diesen Imagewandel in Eberswalde. Da gibt es ein erwachendes Selbstbewusstsein. Das hat viel mit den Kulturinterventionen zu tun. Mit „Jazz in E“ oder dem Filmfestival.
Wie oft brauchen Sie in Ihrem Alltag Berlin?
Das hat sehr nachgelassen. In den ersten Jahren bin ich noch jede Woche zur Chorprobe nach Berlin gefahren. Inzwischen bin ich vielleicht ein- bis zweimal im Monat in Berlin.
Mal angenommen, Sie lebten in Ostvorpommern. Würde da nicht der große Magnet Berlin fehlen, auch wenn man ihn selbst nicht mehr so braucht.
Doch. Auch das Oderbruch hat was davon, so nah an diesem Ballungsraum zu liegen. Eine Durchlässigkeit, Offenheit, Anschlussfähigkeit. So etwas wie braune Blasen gibt es hier nicht. Die Nähe zu Berlin schafft schon ein besonderes Klima, und seien es nur die Besucher, die mal eben vorbeikommen wie beim Theater am Rand.
Das wäre der positive Effekt. Gibt es auch eine Gentrifizierung der Provinz?
Bisher steigen nur die Bodenpreise. Bei den Häusern und Höfen ist es nicht automatisch so. Allerdings gibt es auch im Oderbruch Dörfer, die allgemein als schön gelten. Da ist es offenbar erstrebenswert, was zu ergattern. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass die meisten, die hier rausziehen, keine Kolonien bilden.
Groß Neuendorf an der Oder ist doch fest in Berliner Hand.
(Lacht) Da traf ich letztens auch jemand, der meinte: Na, sind wir hier auf dem Alexanderplatz des Oderbruchs? Aber das ist eine Ausnahme.
Zur Zukunft des Oderbruchs gehört auch die Demografie. Hält denn die Abwanderung der Jüngeren an?
Sie ist nicht mehr sehr stark. Das Hauptproblem ist eher das Wegsterben der Alten. Mit der Robert-Bosch-Stiftung machen wir übrigens gerade ein Projekt, das heißt „Heim(at)arbeit“, da haben wir festgestellt, dass es doch sehr erfolgreiche Berufsbiografien gibt. In meinem Dorf mit 50 Einwohnern gibt es 20 Kinder und viele junge Leute. Das sind keine Künstler. Der eine ist in einer Baufirma, der andere ist Polizist, einer fährt im nächsten Agrarbetrieb Trecker. Es ist auch gut, wenn die Schüler sehen, dass sie hier in diesem Raum noch eine Perspektive haben. Vielleicht wird hier sogar eher über den Sinn von Arbeit nachgedacht. Auf dem Land geht es aber auch um elementare Fragen. Überleben und was machen, auch was zusammenmachen.
Wie ist das mit der regionalen Identität? Sie hatten einmal geschrieben, dass es in Süddeutschland mehr regionale Bräuche gebe und auch eine regionale Küche.
Das ist mein Eindruck, ja. Aber es ist auch ambivalent. Die starke Zugehörigkeit und Raumidentität geht oft auch mit Borniertheiten einher. Der Charme der Mark Brandenburg liegt ja auch darin, dass bestimmte Traditionen schwächer ausgeprägt sind. Das macht sie auch offener und durchlässiger.
Was ist die Identität des Oderbruchs? Spürt man immer noch, das es sich hier um Pioniergebiet handelte? Um eine Sumpfregion, die erst im 18. Jahrhundert urbar gemacht wurde?
Ich spüre, dass ich mich hier auf Pionierland bewege. Wenn ich alte Kirchenbücher lese, bin ich oft verblüfft, dass ich die Namen der ersten Kolonisten hier immer noch finde. Und dann staune ich, wie wenig die das vor sich hertragen. Manchmal denke ich, es wäre gut, wenn die Leute mehr daraus machen würden.
Was zum Beispiel?
Die Vorfahren des Mannes, von dem wir unser Haus gekauft haben, gehörten zu den ersten 24 Kolonisten, die in Schiffmühle vor 250 Jahren die Kirchengemeinde gegründet haben. Neulich zeigte er mir in seiner Scheune eine Truhe aus dieser Zeit. Die wurde aus Westfalen ins Oderbruch gebracht. Mit Nägeln ist das reingeschlagen: 1777. Und dann die Initialen.
Sie haben vier Kinder. Wo wollen die denn mal hin?
Das weiß ich noch nicht. Der Älteste will Klavier studieren und bewirbt sich gerade. Bei den Freunden, die etwas älter sind, wissen die Eltern auch nicht, ob die Kinder wiederkommen oder das Land ein für alle Mal hinter sich lassen.
Es gibt ja auch viele Rückkehrergeschichten. Ist das ein gutes Gefühl für Sie? Zu wissen, dass das alles nicht umsonst war?
Da bin ich recht leidenschaftslos. Ich fände es schon gut, wenn wieder mehr Leute hier sind, aber es müssen nicht unbedingt meine eigenen Kinder sein.
Ärgert es Sie, wenn man am Kollwitzplatz oder in der Bergmannstraße auf Brandenburg schaut und sich verächtlich zuraunt: Das ist doch eh eine trostlose Nazigegend.
Offen gestanden schon. Nicht mehr so wie früher. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass man mit so einer Ignoranz eine gesellschaftliche Perspektive generieren kann.
Gilt das auch für Rainald Grebes Brandenburg-Lied?
Das war eine eher gute Provokation. Außerdem hat er nun ja auch ein provokantes Lied über den Prenzlauer Berg geschrieben. Stadt und Land sind, obwohl sie sich so unähnlich sind, zwei Modi ein und desselben gesellschaftlichen Prozesses. Im Übrigen ist die Borniertheit der Stadt gegenüber dem Land gar nicht so groß, wie manche denken. Da gibt es viele kluge Menschen, die neugierig sind, weil sie verstanden haben, dass das auch mit ihnen zu tun hat.